DER STERN ODER DIE EWIGE WAHRHEIT
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geben, wo finge man an? Die siebzig Opfer des Hütten-
fests werden für die siebenzig »Völker der Welt« — soviel
zählt die Legende gemäß der Stammtafel der Genesis — dar
gebracht. Die Zahl der Knochen des Menschenleibs wird mit
dem Zahlenwert einer Stelle des Gebetbuchs zusammen
gestellt, so daß sich das Psalmwort erfüllt und alle Gebeine
den Ewigen loben. In den Worten, mit denen die Vollendung
der Schöpfung erzählt wird, verbirgt sich der offenbarte
Gottesname. Man käme an kein Ende, wollte man fortfahren.
Aber der Sinn dieser an sich dem ungewohnten Betrachter
sonderbar und selbst lächerlich erscheinenden Schrifterklärung
ist kein andrer als der, daß zwischen den jüdischen Gott und
das jüdische Gesetz die ganze Schöpfung eingeschaltet wird
und dadurch beide, Gott wie sein Gesetz, sich als so all
umfassend erweisen — wie die Schöpfung.
Zwischen dem »Gott unsrer Väter« und dem »Rest Israels«
schlägt die Mystik ihre Brücke mit der Lehre von der
Schechina. Die Schechina, die Niederlassung Gottes auf den
Menschen und sein Wohnen unter ihnen, wird vorgestellt als
eine Scheidung, die in Gott selbst vorgeht. Gott selbst scheidet
sich von sich, er gibt sich weg an sein Volk, er leidet sein
Leiden mit, er zieht mit ihm in das Elend der Fremde, er
wandert mit seinen Wanderungen. Und wie in jenem Ge
danken, daß die Thora vor der Welt und die Welt andrerseits
um der Thora willen geschaffen sei, das Gesetz für das
jüdische Gefühl mehr geworden war als bloß das jüdische
Gesetz und wirklich als ein Grundpfeiler der Welt empfunden
werden konnte, so daß auch die Vorstellung, Gott selbst lerne
sein Gesetz, nun einen überjüdisch allgemeinen Sinn gewann,
so kommt auch der Stolz des »Rests Israels« jetzt in der Vor
stellung von der Schechina zu allgemeinerer Bedeutung. Denn
die Leiden dieses Rests, das ständige Sichscheiden und Sich-
ausscheidenmüssen, das alles wird jetzt zu einem Leiden um
Gottes willen, und der Rest ist der Träger dieses Leidens. Der
Gedanke der Irrfahrt der Schechina, des in die Welt Verstreut
seins der Funken des göttlichen Urlichts, wirft zwischen den