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DRITTER TEIL: DRITTES BUCH
dennoch von ihr scheiden kann — ohne die Verbindung irn
mindesten aufzuheben —, ist sie das Wesen Gottes.
Wenn also Gott die Wahrheit ist, so ist es nicht minder
auch die Wirklichkeit. Auch ihr letztes Wesen ist die Wahr
heit. Neben dem Satz »Gott ist die Wahrheit« steht gleich
berechtigt der andre: »die Wirklichkeit ist die Wahrheit«. Und
schon weil die Wahrheit also Wesen sowohl Gottes als der
Wirklichkeit ist, wie wir sie denn als solches im Allbegriff am
Ende der Bahn der Wirklichkeit erkannten, wäre die Umkeh
rung des Satzes unmöglich. Man kann nicht sagen, daß die
Wahrheit Gott sei, weil sie ebensogut dann auch die Wirklich
keit sein müßte. Und dann wäre Gott die Wirklichkeit, Über
welt und Welt einerlei, und es verschwömme alles in einen
Nebel. So muß Gott also »mehr« sein als die Wahrheit, wie
jedes Subjekt mehr ist als sein Prädikat, jedes Ding mehr ist
als sein Begriff, Und auch wenn die Wahrheit wirklich das
letzte und einzige ist, was man von Gott als sein Wesen aus-
sagen könnte, so bleibt dennoch in Gott noch ein Überschuß
über sein Wesen. Wie aber verhielte er sich dann zu seinem
Wesen? Der Satz »Gott ist die Wahrheit« unterscheidet sich
ja von andern derartigen Sätzen, einschließlich sogar des
Satzes »die Wirklichkeit ist die Wahrheit«, indem das Prädikat
hier nicht Allgemeinbegriff ist, worunter das Subjekt ein
geordnet wird. Was aber wäre die Wahrheit denn? Was ist
Wahrheit?
Die Schule lehrt, daß die Wahrheit das einzige sei, was
nicht geleugnet, nicht bezweifelt werden könne. Es ist der
Grundgedanke des Idealismus, daß die Wahrheit sich selbst
verbürge, indem jeder Zweifel an ihr doch schon ihre Unbe-
zweifelbarkeit voraussetze. Der Satz »Es gibt Wahrheit« sei
der einzig unbezweifelbare Satz. Wäre das wahr, so wäre
offenbar ein Satz wie der, daß Gott die Wahrheit sei, unzu
lässig, indem hier die Wahrheit noch an irgend etwas andres
gebunden würde, während sie doch sich nur selber bindet. Sie
dürfte nur Subjekt, nicht Prädikat von Sätzen bilden. Schon
die Frage »Was ist Wahrheit« wäre ein Majestätsverbrechen.