454
DRITTER TEIL: ZWEITES BUCH
jährlichen Kreislauf des Kirchenjahres hineinnehmen. Indem
die Musik sich diesen Festen und überhaupt dem Kirchenjahr
einfügt, steigt das einzelne Musikwerk heraus aus dem künst
lichen Rahmen seiner idealen Zeit und wird ganz lebendig,
weil es gepfropft wird auf den säftereichen Stamm der wirk
lichen Zeit. Wer einen Choral mitsingt, wer Messe, Weih
nachtsoratorium oder Passion hört, der weiß ganz genau, in
welcher Zeit er ist; er vergißt sich nicht und will sich nicht
vergessen; er will sich nicht aus der Zeit flüchten, sondern im
Gegenteil: er will seine Seele mit beiden Beinen in die Zeit, in
die allerwirklichste Zeit, in die eine Zeit des einen Welttags,
dessen alle einzelnen Welttage nur Teile sind, hineinstellen.
Dahin soll ihm die Musik das Geleit geben. Wieder kann sie
es ja nur bis ans Tor. Wieder muß ihr hier das Sakrament das
Geschäft abnehmen und den Menschen dahin leiten, wohin er
soll. Aber die Vorbereitung dieser Vorbereitung des Ein
zelnen, der sich auf den ewigen Weg begab, lag bei ihr in den
rechten Händen.
Denn die Musik ist es, die jene erste im gemeinsamen
Raum und dem gemeinsamen Hören des Worts gegründete
Zusammengehörigkeit nun steigert zur bewußten und tätigen
Zusammengehörigkeit aller Versammelten. Der von der Bau
kunst erst geschaffene Raum wird nun von den Klängen der
Musik wirklich erfüllt. Der den Raum füllende, von allen ge
meinsam in mächtiger Einstimmigkeit gesungene Choral ist die
eigentliche Grundlage der kirchlichen Anwendung der Musik;
noch in den Bachschen Passionen lebt er fort, und auch die
römische Kirche hat ihn weitergepflegt, wenn auch die musika
lische Messe von ihm wegführt. Im Choral ist die Sprache,
die sonst aus jedes Einzelnen Mund ihr eigenes und besonderes
Wort zu reden hat, zum Schweigen gebracht. Nicht zu jenem
Schweigen, das einfach stumm dem verlesenen Wort zuhört,
sondern zum Schweigen seiner Eigenheit in der Einmütigkeit
des Chors. So wird im gemeinsamen Mahl Gemeinsamkeit
des Lebens bezeugt und bewußt; alle tuen in bewußter Ge
meinschaft das Gleiche, nämlich Essen, und jeder tut es doch
im ganz wörtlichen Sinne »für sich«.