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DRITTER TEIL: ZWEITES BUCH
überhaupt ein Antlitz haben, — daß sie sich sehen. Die Kirche ist
die Gemeinschaft aller derer, die einander sehen. Sie verbindet
die Menschen als Zeitgenossen, als Gleichzeiter an getrenn
ten Orten des weiten Raums. Gleichzeitigkeit ist etwas, was
es in der Zeitlichkeit garnicht gibt. In der Zeitlichkeit gibt es
nur Vorher und Hernach; der Augenblick, wo einer sich selbst
erblickt, kann dem Augenblick, wo er einen andern erblickt,
nur voraufgehen oder folgen; gleichzeitiges Erblicken seiner
selbst und des andern im gleichen Augenblick ist unmöglich.
Das ist der tiefste Grund, weshalb es in der heidnischen Welt,
die ja eben die Zeitlichkeit ist, unmöglich war, seinen Nächsten
zu lieben wie sich selbst. Aber in der Ewigkeit gibt es Gleich
zeitigkeit. Daß von ihrem Ufer aus alle Zeit gleichzeitig ist,
bedarf keiner Worte. Aber auch die Zeit, die als ewiger Weg
von Ewigkeit zu Ewigkeit führt, läßt Gleichzeitigkeit zu. Denn
nur insofern sie Mitte ist zwischen Ewigkeit und Ewigkeit, ist
es möglich, daß sich Menschen in ihr begegnen. Wer sich also
auf dem Weg erblickt, der ist im gleichen Punkte, nämlich im
genauen Mittelpunkte, der Zeit. Die Brüderlichkeit ist es, die
die Menschen in diesen Mittelpunkt versetzt. Die Zeit wird
ihr schon überwunden vor die Füße gelegt; nur noch den tren
nenden Raum hat die Liebe zu überfliegen. Und so überfliegt
sie die Feindschaft der Völker wie die Grausamkeit des Ge
schlechts, den Neid der Stände wie die Schranke des Alters;
so läßt sie alle die Verfeindeten, Grausamen, Neidischen, Be
schränkten sich einander als Brüder erblicken in dem einen
gleichen mittleren Augenblick der Zeit.
In der Mitte der Zeit erblicken sich die Gleichzeitigen. So
trafen sich an den Grenzen derZeit die, denen die Unterschiede
des Raums keine erst zu überwindende Trennung bedeuteten;
denn diese Unterschiede waren dort in der angeborenen Ge
meinschaft des Volks schon von vornherein überwunden; die
Arbeit der Liebe, sowohl der göttlichen an den Menschen als
der menschlichen untereinander mußte da einzig gerichtet sein
auf die Erhaltung dieser Gemeinschaft hin durch die Zeit, auf
die Herstellung der Gleichzeitigkeit der in der Zeitlichkeit ge-