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DRITTER TEIL: ERSTES BUCH
jenseitigen Ferne befreit; sie ist nun wirklich da, greifbar,
faßbar dem Einzelnen und den Einzelnen mit starker Hand
greifend und fassend. Er steht nicht mehr in der ewigen Ge
schichte des ewigen Volks, nicht mehr in der ewig wechseln
den Geschichte der Welt. Es gilt kein Warten, kein sich Ver-'
krjechen hinter die Geschichte. Der Einzelne unmittelbar wird
gerichtet. Er steht in der Gemeinde. Er sagt Wir. Aber die
Wir sind an diesem Tage nicht die Wir des geschichtlichen
Volks; nicht die Überschreitung der Gesetze, die dieses Volk
von den Völkern des Erdballs scheiden, ist die Sünde, um
deren Vergebung die Wir schreien. Sondern an diesen Tagen
steht der Einzelne unmittelbar in seiner nackten Einzelheit vor
Gott, in der Sünde des Menschen schlechtweg; nur diese
menschliche Sünde wird in der erschütternden Aufzählung der
Sünden, »die wir gesündigt haben«, genannt, — eine Aufzäh
lung, die mehr bedeutet als Aufzählung: eine alle Schlupf
winkel der Brust erleuchtende Hervorlockung des Bekennt
nisses der einen Sünde des immer gleichen menschlichen
Herzens.
Und so können die Wir, in deren Gemeinschaft der Ein
zelne also in seiner nackten und bloßen Menschlichkeit vor
Gott an seine Brust schlägt und in deren bekennendem Wir er
sein sündiges Ich fühlt wie nie im Leben, keine engere Ge
meinde sein als die eine der Menschheit selbst. Wie das Jahr
an diesen Tagen unmittelbar die Ewigkeit vertritt, so Israel
an ihnen unmittelbar die Menschheit. »Mit den Sündern« ist
sich Israel bewußt zu beten. Und das heißt ja, sei der Ur
sprung der dunkeln Formel welcher er wolle: als Ganzes der
Menschheit »mit« einem Jeden. Denn Jeder ist ein Sünder.
Mag die Seele von Gott dem Menschen rein gegeben sein, so
ist sie nun hineingerissen in den Streit der beiden Triebe
seines zwiegespaltenen Herzens. Und mag er in immer neu
gesammeltem Willen mit Vorsatz und Gelübde immer neu das
Werk der Einigung und Reinigung des zwiespältigen Herzens
beginnen, — an der Scheide zweier Jahre, die die Ewigkeit
bedeutet, wird ihm aller Vorsatz zu nichte, alle Weihe ent-