382 DRITTER TEIL: ERSTES BUCH
sie auf, Vergangenheit und Zukunft zu sein, und werden, also
erstarrt, nun gleichfalls eine unveränderliche Gegenwart. Sitte
und Gesetz rinnen, unvermehrbar und unabänderlich geworden,
in das eine Sammelbecken des so gegenwärtig als ewig Gül
tigen; eine einzige, Sitte und Gesetz in eins schließende
Lebensform erfüllt den Augenblick und macht ihn ewig. Aber
so wird der Augenblick freilich dem Strom der Zeit enthoben,
und indem das Leben geheiligt wird, ist es nicht mehr lebendig.
Während der Mythos der Völker sich ständig wandelt, ständig
Teile der Vergangenheit vergessen, ständig andre zu Mythos
erinnert werden, ist hier der Mythos verewigt und ändert sich
nicht mehr; und während die Völker in Revolutionen leben, in
denen das Gesetz ständig seine alte Haut abstreift, herrscht
hier das Gesetz, das von keiner Revolution abgeschafft wird,
und dem man wohl entlaufen, nicht aber es ändern kann.
Indem so die heilige Gesetzeslehre — denn beides, Lehre
und Gesetz in einem, umschließt der Name Thora — das Volk
aus aller Zeit- und Geschichtlichkeit des Lebens heraushebt,
nimmt sie ihm auch die Macht über die Zeit. Das jüdische Volk
zählt nicht die Jahre einer eigenen Zeitrechnung. Weder die
Erinnerung seiner Geschichte noch die Amtszeiten seiner
Gesetzgeber dürfen ihm zum Maß der Zeit werden; denn die
historische Erinnerung ist kein fester Punkt in der Vergangen
heit, der jedes Jahr um ein Jahr vergangener wird, sondern
eine immer gleich nahe, eigentlich gar nicht vergangene, son
dern ewig gegenwärtige Erinnerung: jeder einzelne soll den
Auszug aus Egypten so ansehen, als wäre er selbst mit aus
gezogen; und Gesetzgeber, die das Gesetz im lebendigen Laufe
der Zeit erneuerten, gibt es hier nicht; selbst was vielleicht der
Sache nach Neuerung ist, muß sich doch stets so geben, als
stünde es schon in dem ewigen Gesetz und wäre in seiner
Offenbarung mitoffenbart. Die Zeitrechnung des Volkes kann
also hier nicht die Rechnung der eigenen Zeit sein; denn es
ist zeitlos, es hat keine Zeit. Sondern es muß die Jahre zählen
nach den Jahren der Welt. Und abermals, zum dritten Male,
sehen wir hier am Verhältnis zur eignen Geschichte wie vor