VOM REICH
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Zeit in sich selber dar; sie blieb nun gewissermaßen stehen, in
jedem Menschen, der glaubte. Wie denn wirklich die Paulus
kirche die räumliche Ausbreitung des Glaubens, an der die
Zeit — denn ohne Zifferblatt keine Uhr — allein abgelesen
werden konnte, einfach vergaß. Erst die johanneische Welt
schuf im Gebet an das Schicksal wirklich eine lebendige Zeit,
einen in sich selber fließenden Strom, der den einzelnen Augen
blick, statt in ihm weggeschlürft zu werden, vielmehr auf
seinem Rücken ozeanwärts trägt und die Breite des Raums,
statt in ihr auseinanderziriaufen und zu versickern, vielmehr in
tausend Verzweigungen durchströmt und bewässert.
In diesem Fluß der lebendigen Zeit ist die Zeitlichkeit des
Lebens vollendet. Ginge das Leben ganz in dieser seiner Zeit
lichkeit auf, wäre also das Gebet an das Schicksal sein höchstes
und ganzes Gebet, so würde das Kommen des Reichs durch
dieses Gebet, das ja stets den richtigen Augenblick trifft und
also stets der Erfüllung gewiß sein kann, nicht bloß weder be
schleunigt noch verzögert, sondern — wohlgemerkt: wenn es
möglich wäre, jenes Gebet als einziges zu beten — gradezu
stillgelegt. Von dem kurzen unnachahmlichen Augenblick aus,
wo es so scheinen konnte, als ob wirklich hier dies geschöpf-
liche Gebet für sich allein gebetet werden dürfte, von dem
Leben Goethes, diesem seligsten Menschenleben her gesehen,
scheint ja wirklich die Zeit stillzustehen, und aus der Stadt
Gottes dringt wie aus einem versunkenen Vineta nur ein leises
Nachhallen verklungener Glocken an die Oberfläche des Lebens.
Aber Zeitlichkeit ist nicht Ewigkeit. Das rein zeitlich lebendige
Leben Goethes, des lebendigsten der Menschenkinder, war
schon in der reinen Zeitlichkeit nur ein einziger, nur mit
Lebensgefahr nachzumachender Augenblick. Das Zeitliche
braucht den Halt des Ewigen. Aber freilich: ehe nicht das
Leben ganz zeitlich oder, anders gesagt, die Zeit ganz lebendig,
ganz wirklicher, durch den weiten Raum hindurch über die
Klippe des Augenblicks hinweg strömender Strom geworden
ist,'eher kann die Ewigkeit nicht über sie kommen. Das Leben,
und alles Leben, muß ganz zeitlich, ganz lebendig geworden