35 6
DRITTER TEIL: EINLEITUNG
mehr verweltlichten Welt; je größer die Spannung zwischen
beiden, um so wohler fühlte sich dieser Protestantismus, der
am Ende diesen wechselseitigen Protest des Glaubens gegen
die Welt, der Welt gegen den Glauben zu seinem Hauptstück
erhub. Mit andern Worten: die neue Kirche verzichtete auf
die Tat, die recht eigentlich die höchste Tat der alten gewesen
war und es grade jetzt im Gegensatz zu der neuen wieder
wurde: auf die Mission. Als zum ersten Mal von einer im
Luthertum gewachsenen Richtung das Werk der Heidenbekeh
rung aufgenommen wurde, da war es das Zeichen, daß hier, im
Pietismus, etwas Neues heraufzog. Die Sterbestunde des alten
Protestantismus war eingeläutet.
Leib und Seele waren noch geschieden; jedes blieb dem
andern etwas schuldig, der Seele der Leib ihre Wahrheit, dem
Leib die Seele seine Wirklichkeit. Der ganze Mensch war
beides und mehr als beides. Und solange nicht der ganze
Mensch, sondern immer nur ein Teil von ihm bekehrt war, so
lange war die Christenheit noch in der Vorbereitung, noch
nicht am Werk selber. Der Mensch ist Mikrokosmos; was
innen ist, ist außen. Über Leib und Seele wölbt sich, höher als
beide, von beiden getragen, das Leben. Das Leben nicht als
Leben des Leibes oder der Seele, sondern als etwas für sich,
das Leib und Seele in sich, in sein Schicksal hineinreißt. Das
Leben ist der Lebenslauf. Das eigentliche Wesen des Menschen
ist weder in seinem leiblichen noch in seinem geistigen Sein,
es vollendet sich erst im ganzen Ablauf seines Lebens. Es ist
überhaupt nicht, es wird. Das Eigenste des Menschen ist eben
sein Schicksal. Leib wie Seele hat er noch irgendwie mit
andern gemein; sein Schicksal hat er für sich selber. Das
eigene Schicksal ist zugleich Leib und Seele, es ist das, was
man »am eigenen Leibe — erfährt«. Zugleich, indem es den
Menschen in sich selber eins macht, einigt es ihn doch auch
mit der Welt. Er hat es nicht mit der Welt gemein, wie doch
sein Leib Teil der geschaffenen Welt, seine Seele Miterbin
der göttlichen Offenbarung ist; aber er hat es ganz in der
Welt; er ist in der Welt, indem er es hat. Er wächst in die