ERLÖSUNG
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ist so sehr das Wesentliche, daß wir mit Recht Anlehnungen
an fremde Rhythmen, Aufnahme fremder Harmonien bei einer
Komposition nicht als unzulässiges Plagiat empfinden, sondern
einfach als »Verwandtschaft«, während wir die geringste Ent
lehnung einer Melodie sofort als Diebstahl zu brandmarken
geneigt sind.
Die Poesie hat zu ihrer Grundlage etwas, was man wohl
als Metrum bezeichnen dürfte, wenn dies Wort nicht eine zu
enge Bedeutung hätte. Es fehlt in der Theorie der Dichtung
eine Unterscheidung, wie sie die Musik zwischen Rhythmus
und Takt setzt; wo Rhythmus ist, da ist auch Takt, aber nicht
umgekehrt. So ist das Metrum nur eine äußerlich meßbare
Teilerscheinung von dem, was wir als Ganzes Klang nennen
möchten. Der Klang ist das, was als die das Ganze in seiner
ganzen Breite umfassende Urkonzeption dem poetischen Werk
zugrunde liegt, der Klang sowohl in rhythmischer wie in kolo
ristischer Beziehung, also sowohl die Bewegung, die durch das
Ganze hindurchgeht, wie das Verhältnis, in welchem Vokal
klänge sowie auch Konsonantengeräusche untereinander stehen.
Es handelt sich dabei um die nur wenig ins Bewußtsein
tretende eben wirklich zugrunde liegende Eigenart des einzelnen
Werks, die es als Ganzes von allen andern Werken schon vor
aller weiteren Bestimmung unterscheidet. Es muß einem feinen
Ohr möglich sein, an inhaltlich ganz unbezeichnenden Sätzen
rein auf Grund des »Klanges« zu unterscheiden, ob sie bei
Schiller oder bei Kleist, ja ob sie im Don Carlos oder im Wal
lenstein stehen. Oder noch deutlicher: ein guter Schauspieler
müßte den Satz »die Pferde sind gesattelt« ganz anders
sprechen, wenn er in der Penthesilea als wenn er in
der Natürlichen Tochter vorkäme.
Zu diesem Charakter des Ganzen, den der Klang bestimmt,
tritt nun die Versenkung ins Einzelne, die in der Wortwahl
geschieht. Dies ist das, was man als die individuelle »Sprache«
des einzelnen Dichters bezeichnet, etwas äußerlich infolge
unserer Schriftgewohntheit leichter zu Fassendes und deshalb
auch schon viel länger Beobachtetes als der ebenso indivi