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ZWEITER TEIL: DRITTES BUCH
gegenübersteht. Der Dichtung gilt solches Mißtrauen nicht;
in ihrer Ausübung begegnen sich der Dichter des neunzigsten
Psalms und des Epigramms auf Aster. Denn die Dichtung
gibt Gestalt wie Rede, weil sie mehr als beides gibt: das vor
stehende Denken, in dem beides in einem lebendig ist. Die
Dichtung ist darum, weil die lebendigste, die unentbehrlichste
Kunst; und während es nicht nötig ist, daß jeder Mensch Sinn
für Musik oder Malerei hat oder in einer dieser beiden repro
duktiv oder produktiv dilettiert, muß jeder volle Mensch Sinn
für Poesie haben, ja eigentlich ist es sogar notwendig, daß er
in ihr dilettiert; das mindeste ist, daß er einmal gedichtet hat;
denn wenn einer allenfalls ein Mensch sein kann ohne zu
dichten, ein Mensch werden kann er nur, wenn er einmal eine
Zeit lang gedichtet hat.
Für die bildende Kunst ist es ohne weiteres klar, daß weder
Vision noch Form für sich allein schon das Kunstwerk machen.
Jene ist bloß die unsichtbare Untermalung des schließlich dem
Beschauer sichtbaren Werks im Geist des Künstlers, diese ist
die stets nur einer bestimmten Einzelheit zugewandte Ausfüh
rung in ihrem Verhältnis zur Natur. Erst wenn diese liebevolle
Ausführung die ganze Breite des geistig Geschauten durch
messen hat, an dem allein doch ihr ins Einzelne versenktes
»Gefühl« Gesetz und Richtung gewinnen kann, erst dann ist die
sichtbare Gestalt des Kunstwerks da. Wo ein Überschuß von
Vision über den Willen zur Formung ist, droht die Gestalt im
Ornamentalen stecken zu bleiben. Wo andrerseits der natur
nahe Wille zur Formung des Einzelnen überwiegt und die
Vision schwach ist, da bleibt die Gestalt im Modell stecken;
das Werk »geht nicht zusammen«.
Ganz ähnlich hebt sich in der Musik über die stumme das
Ganze durchziehende Bewegung des Rhythmus und die tönend
das einzelne beseelende Harmonie die so bewegte wie tönende
Linie des Melos. Die Melodie ist das Lebendige an der Musik.
Von einem Musikstück mehr als den »Charakter« — meist der
Rhythmus — und die »Stimmung« — meist die Harmonie —
behalten, heißt den Gang seines Melos behalten. Die Melodie