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ZWEITER TEIL: DRITTES BUCH
Lande manifestiert sich also die Kunst genau so wenig wie in
den Sammlungen und Aufführungen der Werke. Wirklichkeit
wird sie erst, indem sie sich Menschen zu Betrachtern erzieht
und sich ein dauerndes »Publikum« schafft. Nicht Bayreuth
bezeugt die Lebendigkeit Wagners und seines Werks, sondern
die Tatsache, daß die Namen Elsa und Eva Modenamen wur
den und daß der Gedanke des Weibs als Erlöserin die Form
männlicher Erotik in Deutschland jahrzehntelang stark gefärbt
hat. Erst einmal Publikum geworden, ist die Kunst nicht mehr
aus der Welt auszuschalten; solange sie bloß Werk und bloß
Künstler ist, lebt sie nur ein höchst prekäres Leben von einem
Tag zum andern.
Greifen wir nun noch einmal auf den Urheber zurück. Wir
hatten ihn als Schöpfer und Künstler erkannt. Wiederum sind
beide einer ohne den andern nicht lebensfähig. Die Bedeutsam
keit, die der Inhalt des einzelnen Augenblicks in der bewußten
Arbeit des »Künstlers« gewinnt, muß sich über den ganzen
Bereich der schöpferischen Phantasie des »Dichters« ver
breiten. Erst wenn so der Schöpfer nicht mehr dem blind
speienden Eeuerberg gleicht, dem wahllos Bild um Bild ent-
schießt, sondern ihm seine Inhalte alle erfüllt sind mit sym
bolischem Gewicht, erst dann ist er mehr als bewußter
Künstler, mehr als blinder Schöpfer; erst dann ist er — wenn
auch immer in den Grenzen, welche die Kunst nun einmal dem
Menschen zieht, — ein Mensch. Nur zur Verdeutlichung sei
etwa beigefügt, daß also beispielsweise Shakespeare, wie ihn
die Stürmer und Dränger sahen, nur Schöpfer gewesen wäre;
Shakespeare, wie ihn die Hamburgische Dramaturgie nahm,
nur Künstler; aber Shakespeare, wie ihn Brandes darstellte
— in der Lebenseinheit von Phantasie und bewußter Kunst, so
daß jene in der Entwicklung des inneren Lebens dieser
entgegenwuchs, diese nach Auswirkung am Stoffe jener
drängte — ein Mensch.
Für jedes Werk hatten wir grundsätzlich die Begriffe des
»Epischen« und »Lyrischen« aufgestellt, unter jenem die stoff
lichen, von der Einheit der Form umschlossenen, unter diesem