ERLÖSUNG
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liegt, noch klarer werden. Der Islam macht gleichfalls die
Welt in ihrer Individualität zum Gegenstand der Erlösung. Der
Weg Allahs führt den Gläubigen in die wirklichen Völker der
wirklichen Epochen hinein. Wie werden nun hier diese Völker
und Epochen gedacht? Im Reich treten sie hervor in einem
ständigen, dennoch unberechenbaren Wachstum an Leben; es
ist nicht mit Bestimmtheit zu sagen, daß ein Volk, eine Epoche,
ein Ereignis, ein Mensch, ein Werk, eine Institution wirklich
zu unsterblichem Leben kommt; niemand weiß das; aber einen
Zuwachs an Leben, wenn auch nicht ewigem Leben, bedeutet
selbst die am Ende doch wieder versinkende Gestalt. Denn
in der Erinnerung bleibt auch sie und in Wirkungen, die
schließlich doch wieder irgendwann einmal und irgendwo ins
Reich eingehen.
Im Islam hingegen steht alle weltliche Individualität noch
unter ihrem vorzeitlichen Zeichen, dem Nein. Sie ist immer
neu, kein allmählich Wachsendes. Hier ist wirklich jedes Zeit
alter unmittelbar zu Gott und nicht bloß jedes Zeitalter, son
dern überhaupt alles Individuelle. So ist auf dem Boden des
Islam seit der Antike wieder das erste wirkliche geschichtliche
Interesse im modernen Sinn, ein recht eigentlich wissenschaft
liches Interesse ohne »geschichtsphilosophischen« Hintergrund,
aufgekommen. Während in der christlichen Welt das Inter
esse an jenem Hintergrund vorwaltete und der Wunsch, das
Walten Gottes in der Geschichte am Wachstum seines Reichs
menschlichen Augen sichtbar zu machen, die Geschichtsdar
stellung bestimmte und trotz aller Enttäuschungen durch den
Gang der Ereignisse, der immer wieder lehrt, daß Gottes Wege
unerforschlich sind, dennoch immer wieder bestimmt und be
stimmen wird. Jenem mit innerer Notwendigkeit geschehenden
Wachstum des Reichs gegenüber bildet der Islam eine höchst
bezeichnende Lehre aus, die Lehre von den Imamen. Jedes
Zeitalter, jedes »Jahrhundert« seit Muhamed hat seinen
»Imam«, seinen geistlichen Vorsteher;, der wird den Glauben
seines Zeitalters auf den rechten Weg leiten. Die Zeitalter
untereinander werden also dabei in gar keine Beziehung ge