Full text: Der Stern der Erlösung

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ZWEITER TEIL: DRITTES BUCH 
in dem Augenblick des Liebens Nächsten, der, einerlei was er 
vor diesem Augenblick der Liebe war und nachher sein wird, 
jedenfalls in diesem Augenblick mir nur der Nächste ist. Der 
Nächste ist also nur Repräsentant; er wird nicht um seiner 
selbst willen geliebt, nicht seiner schönen Augen wegen, son 
dern nur weil er grade da steht, weil, er grade mein Nächster 
ist. An seiner Stelle — eben an dieser mir nächsten Stelle — 
könnte ebensogut ein andrer stehen; der Nächste ist der Andre, 
der »plesios« der Septuaginta, der homerische »plesios allos». 
Der Nächste ist also wie gesagt nur Platzhalter; die Liebe 
geht, indem sie vertretungsweise auf den ihr in dem flüchtigen 
Augenblick ihrer Gegenwärtigkeit jeweils Nächsten geht, in 
Wahrheit auf den Inbegriff Aller — Menschen und Dinge —, 
die ihr jemals diesen Platz des ihr Nächsten einnehmen könn 
ten, sie geht letzthin auf alles, auf die Welt. Wie, das lassen 
wir hier noch außer Betracht. Wir wenden uns lieber vorerst 
zu jenem andern Pol, eben zur Welt. 
Hier stellt sich uns nun eine höchst auffallende Schwierig 
keit in den Weg, eine Schwierigkeit, deren Lösung jedoch ein 
Licht über den ganzen bisher zurückgelegten Weg werfen 
wird. Während nämlich sowohl bei Gott wie beim Menschen 
das Hervortreten des »Ja« dem Hervortreten des »Nein« welt 
zeitlich voranging, Gott also »zuerst« schuf und »dann« sich 
offenbarte, der Mensch »zuerst« die Offenbarung empfing und 
»alsdann« sich zur Welttat anschickte, jedesmal also das einfür- 
allemal Geschehene dem augenblickshaft Geschehenden voran 
ging, liegt dies Zeitverhältnis für die Welt umgekehrt. Die 
Welt macht sich zuerst, nämlich in der Schöpfung, zu dem 
jeden Augenblick im Ganzen Erneuerten; sie macht sich selbst 
zur »Kreatur«, den Schöpfer zur Vorsehung. So bleibt ihr für 
die Erlösung — denn die Offenbarung geschieht unmittelbar 
nicht ihr, sondern ist ein Ereignis zwischen Gott und Mensch 
— nur das »Ja«. Was bei Gott und beim Menschen voranging, 
die breite Erstellung des eigenen Seins, das dann durch die 
eigne Tat nur noch innerlich zusammengefaßt und zur Gestalt 
geeinigt wurde, das muß bei der Welt erst folgen, Die selbst-
	        

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