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ZWEITER TEIL: DRITTES BUCH
geformt werden soll; eben darin erweist sich seine Welttat
als reiner Gehorsam gegen ein einfürallemal dem Willen auf
erlegtes Gesetz. Die Gebote Gottes, soweit sie zur »zweiten
Tafel« gehören, welche die Liebe des Nächsten spezifiziert,
stehen durchweg in der Form des »Du sollst nicht«. Nur als
Verbote, nur in der Absteckung von Grenzen dessen, was
keinesfalls mit der Liebe zum Nächsten vereinbar ist, können
sie Gesetzeskleid anziehen; ihr Positives, ihr »Du sollst« geht
einzig in die Form des einen und allgemeinen Gebots der
Liebe ein. Die ins Gewand positiver Gesetze gekleideten Ge
bote sind überwiegend Gesetze des Kults, der Gebärdensprache
der Liebe zu Gott, Ausführungen also der »ersten Tafel«. Die
Welttat also, und grade die höchste Tat am meisten, ist ganz
freie unberechenbare Liebe, im Islam hingegen Gehorsam
gegen das einmal erlassene Gesetz. Wie denn auch das isla
mische Recht überall auf unmittelbare Aussprüche des Stifters
zurückzugehn sucht und so gradezu eine streng historische
Methode ausbildet, während sowohl das talmudische wie das
kanonische Recht nicht auf dem Wege historischer Feststellung,
sondern auf dem logischer Ableitung seine Sätze zu gewinnen
sucht. Die Ableitung macht eben das Gegenwärtige mächtig
über das Vergangene; denn sie wird unbewußt bestimmt von
dem Punkt aus, nach dem hin die Ableitung geschieht, und
das ist die Gegenwart, während die Feststellung umgekehrt
die Gegenwart abhängig macht vom Vergangenen. So ist
selbst in dieser scheinbar reinen Rechtswelt noch der Unter
schied von Liebesgebot und Gesetzesgehorsam erkennbar.
Indem aber die Welttat im Islam Ausübung des Gehorsams
ist, wird nun sein Menschbegriff erst ganz deutlich. Die Vor
aussetzung der gehorsamen Welttat ist hier der »Islam«, das
immer neue, immer gewaltsarmschwere Sichergeben der Seele
in Gottes Willen. Hier, in diesem Sichergeben, das eine, ja
das die einzige Tat der Freiheit ist, die der Islam kennt, wes
halb er mit Recht von dieser Tat seinen Namen nimmt, liegt
zwar nicht der Ursprung der Welttat — der liegt auch hier
im Charakter, in dem zum Gehorsam entschlossenen Charakter.