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ZWEITER TEIL: DRITTES BUCH
Leiden ablaufenden tragischen Existenz. Ein Bewußtsein frei
lich, das obwohl es durchweg von seltsamer, in Wirklichkeit
kaum möglicher Klarheit ist, dennoch stets beschränkt bleibt.
Es ist stets die Ansicht der Welt und der eigenen Stellung in
ihr nur von einem bestimmten Standpunkt, nämlich dem des
einzelnen eigenen Ichs.
Und dieser Ichstandpunkte gibt es viele, so viele als Iche.
Denn dies ist ein innerster Unterschied der neuen Tragödie
von der alten, um dessentwillen man sie mit Recht als Charak
tertragödie jener als der Handlungstragödie entgegengestellt
hat: ihre Gestalten sind alle untereinander verschieden, ver
schieden wie es jede Persönlichkeit von der andern ist, weil
ja jede Persönlichkeit eine andre »Individualität« zugrunde
liegen hat, einen andren unteilbaren WelMeil, der ganz von
selber also auch einen eigenen Standort der Weltbetrachtung
bedeutet. Das war in der antiken Tragödie anders; hier
waren nur die Handlungen verschieden, der Held aber war als
tragischer Held immer der gleiche, immer das gleiche trotzig
in sich vergrabene Selbst. Dem also notwendig beschränkten
Bewußtsein des neueren Helden läuft die Forderung, daß er
überhaupt wesentlich, nämlich wenn er mit sich allein ist,
bewußt sei, zuwider. Bewußtsein will immer klar sein; be
schränktes Bewußtsein ist unvollkommenes. So müßte er
eigentlich ein vollkommenes Bewußtsein seiner selbst und der
Welt haben. Und so treibt die neuere Tragödie nach einem
Ziel, das der antiken ganz fremd ist, nach der Tragödie des
absoluten Menschen in seinem Verhältnis zum absoluten
Gegenstand. Die philosophischen Tragödien, die Tragödien,
wo der Held gradezu Philosoph ist — ein der Antike ganz
abenteuerlicher Gedanke —, gelten uns übereinstimmend als
die Höhepunkte der modernen Tragödie überhaupt: Hamlet,
Wallenstein, Faust.
Aber selbst in ihnen empfinden wir noch nicht das Eigent
liche erreicht. Es stört uns noch, daß hier der Held bloß —
Philosoph ist, Mensch also, der zwar dem »Absoluten« gegen
übersteht, aber doch eigentlich nur gegenüber; der absolute