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ZWEITER TEIL: DRITTES BUCH
wenn auch nur in der Vor=welt. Der Mystiker aber ist kein
Mensch, kaum ein halber Mensch; er ist nur Gefäß seiner
erlebten Verzückungen. Er spricht wohl, aber was er spricht,
ist nur Antwort, nicht Wort, sein Leben nur Warten, nicht
Wandeln. Aber nur ein Mensch, dem aus Antwort das Wort,
aus dem Warten auf Gott das Wandeln vor Gott erwüchse,
nur das wäre ein wirklicher, ein voller Mensch. Erst er
könnte dem Helden die Wage halten; denn erst er wäre
ebenso sichtbar und Gestalt wie der Held. Wieder wie bei
Gott liegt es hier so, daß aus der im Heidentum »fertig gewor
denen« Gestalt in der inneren Umkehr nicht sofort eine neue
Gestalt hervor-geht, sondern zunächst entspringt ihr nur ein
noch Gestaltloses, ein bloßer eigenschaftlicher Akt, die Schöp
fertat Gottes, das Sichöffnen der Seele; ein Gestaltloses, das
dann erst, indem es in die Bahn des Weltgestirns hinein
gerissen wird, weiterhin Gestalt annimmt; erst so werden ja
alle Kräfte, die in jener fertigen Gestalt der Vorwelt zu
sammengeschlossen waren, wieder wirksam. Die Gestalt, die
der verschlossene Mensch so annimmt, indem er sich in
Warten und Wandeln, in Erlebnis der Seele und seelenhafter
Tat zum ganz erschlossenen Menschen rundet, ist, um es vor
weg zu sagen, die des Heiligen. Der Heilige ist so diesseits
der menschlichen Verschlossenheit wie der Held jenseits; es
ist das gleiche Verhältnis wie zwischen dem öffenbaren Gott
der Liebe und dem bloß in sich lebendigen des Mythos,
zwischen denen scheidend die Nacht der göttlichen Verborgen
heit steht.
Indem sich der Mensch zum ganzen Menschen erschließt,
ist er nun unmittelbar sichtbar und hörbar geworden. Er kann
ja jetzt sein Gesehen- und Gehörtwerden erzwingen; er ist
nicht mehr starres Marmorbild wie der tragische Held des
Altertums; nein, er spricht. Deswegen fällt in der neueren
Tragödie der Chor als überflüssig weg. Es braucht dem Zu
schauer nicht mehr vor Augen geführt zu werden, daß der
Held trotz seiner Blindheit sichtbar, trotz seiner Taubstumm
heit ansprechbar ist; es braucht ihm nicht vor Augen geführt