ZWEITER TEIL: ZWEITES BUCH
2 54
Es war der Wende des achtzehnten zum neunzehnten
Jahrhundert Vorbehalten, diese gefühlsmäßig klare, weil in
der Offenbarung wurzelnde, Ansicht vom Verhältnis des
Menschlichen zum Göttlichen, des Weltlichen zum Geistlichen,
der Seele zur Offenbarung, zu verwirren und zu trüben.
Wenn Herder und Goethe das Hohe Lied als eine Sammlung
»weltlicher« Liebeslieder in Anspruch nahmen, so war in die
ser Bezeichnung »weltlich« nicht mehr und nicht weniger
ausgesprochen, als daß Gott — nicht liebt. Und wirklich war
ja dies die Meinung. Mochte der Mensch Gott als das Symbol
des Vollkommenen »lieben« — nimmermehr aber durfte er
verlangen, daß Gott ihn »wieder«=liebe. Die spinozistische
Leugnung der göttlichen Liebe zur einzelnen Seele war den
deutschen Spinozisten willkommen; Gott durfte, wenn er
denn lieben sollte, höchstens der »allliebende Vater« sein;
das echte Liebesverhältnis Gottes zur einzelnen Seele wurde
verneint und damit nun das Hohe Lied zum »rein mensch
lichen« Liebeslied gemacht. Denn echte Liebe, die eben nicht
Allliebe ist, gab es nun nur zwischen Menschen. Gott hatte
aufgehört, die Sprache des Menschen zu sprechen; er verzog
sich wieder in seine neuheidnisch=spinozistische Verborgen
heit jenseits des vom Gewölk der »modi« überzogenen
Himmelsgewölbes der »Attribute«.
Was diese Erklärung der Sprache der Seele für »rein
menschlich« bedeutete, wurde erst im weiteren Verlauf klar.
Herder und Goethe hatten unwillkürlich immer noch so viel
von der überlieferten Auffassung bewahrt, daß sie das Hohe
Lied nur als eine Sammlung von Liebesliedern betrachteten,
ihm also seinen subjektiven, lyrischen, seelenoffenbarenden
Charakter ließen. Aber nach ihnen ging man weiter auf der
Bahn. War das Hohe Lied einmal »rein menschlich« zu ver
stehen, dann konnte man vom »rein Menschlichen« auch den
Schritt zum »rein Weltlichen« tun. Es wurde also nach Kräf
ten entlyrisiert. Von allen Seiten versuchte man, dramatische
Handlung und epischen Inhalt hineinzudeuten; die eigentüm
liche Unklarheit, mit der sichtlich neben dem Hirten noch ein