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ZWEITER TEIL: ZWEITES BUCH
Rücksicht und Vorsicht auf seine Nachbarn, beseelen, ihm
tönendes Leben einhauchen. Sie kann erst eintreten, nachdem
das Ganze aller Augenblicke im Rhythmus geschaffen ist, aber
sie fragt selber nicht nach dem rhythmischen Werte des ein
zelnen Augenblicks, sie macht ihn für sich tönend — ob auf
lange oder kurze Zeit, was geht sie das an? Diese Beseelung
der Einzelheit ist das Werk der Harmonie. Die Harmonie gibt
dem einzelnen, im Rhythmus nur erst ein stummes Glied des
Ganzen bildenden Augenblick Ton und Leben zugleich; sie
macht ihn überhaupt erst tönend und beseelt ihn, gibt ihm
Stimmungswert, und beides in einem, recht so wie die Offen
barung dem stummen Selbst- Sprache und Seele in einem ver
leiht. Wie der einzelne Punkt des Werks der bildenden Kunst
»geformt« sein muß, aber nicht »geschaut« sein kann, sondern
die Vision schaut schöpferisch die Summe aller Einzelheiten
vorweg; so wird der einzelne Augenblick des musikalischen
Werks harmonisch beseelt mit der ganzen Tiefe einer eigenen
Stimmung, die ihn als Augenblick und für den Augenblick ganz
unabhängig von dem rhythmischen Ganzen zu machen scheint.
Soweit können wir die Kunstwelt hier darstellen; zum Ab
schluß kann diese Darstellung, eben wegen der hier bloß kate-
gorialen Anwendung der Grundbegriffe und des dadurch be
dingten stammbaumartigen Aufbaues, auch für die Kategorien
der Schöpfung und Offenbarung erst im nächsten Buch ge
langen. Da wird dann auch deutlich werden, daß schließlich
diese ganze Kunstlehre doch noch etwas mehr ist als eine
bloße Episode, für die sie hier allerdings gelten mußte. Lenken
wir also nun von der Episode wieder in die Hauptlinie zurück.
W ir hatten die Offenbarung als das unter der Liebe Gottes
geschehende Mündigwerden des stummen Selbst zur
redenden Seele erkannt. Wenn Sprache mehr ist als nur ein
Vergleich, wenn sie wahrhaft Gleichnis — und also mehr als
Gleichnis — ist, so muß das, was wir in unserem Ich als leben
diges Wort vernehmen und was uns aus unserm Du lebendig
entgegentönt, auch in dem großen historischen Zeugnis der