OFFENBARUNG
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lm einzelnen Werk der bildenden Kunst ist nun das Grund
legende, das, worauf wie auf einem Skelett das Werk auf
gebaut ist und was doch eben als Skelett noch erst der bloße
Anfang, der bloße Schöpfungstag des Werks ist, etwas was
wir in Ermanglung eines feststehenden Ausdruckes »Vision«
nennen wollen. Was ist denn der Anfang des Werks der bil
denden Kunst? Doch dies, daß das Ganze des Werks als ein
in alle Einzelheiten ausgebildetes Ganzes mit einem Mal dem
Künstler vor dem inneren Auge steht. Was er da sieht, hat
gar keine Beziehung auf'die »Natur«, selbst wenn dies Auf
springen des Ganzen scheinbar im Angesicht der Natur ge
schehen ist. Sondern im Gegenteil: der »Natureindruck« muß
in diesem schöpferischen Augenblick völlig verdrängt sein, um
dem Aufflammen der Vision Platz zu machen; man kann
sagen: der Künstler, selbst etwa der Porträtkünstler in der
ersten Sitzung, betrachtet seinen »Vorwurf« nur deshalb so
eindringlich, um über den Eindruck und die Eindrücke hinaus
zukommen; er sieht ihn sich also eigentlich nur an, um ihn
nicht mehr zu sehen. In dem Augenblick, wo er ihn nicht mehr
sieht, sondern an seiner Stelle ein von aller Natur losgelöstes
Ganzes von Richtungen, Verhältnissen, Intensitäten, von
»Formen« also und »Valeurs«, um die Atelierausdrücke zu
gebrauchen, erst in diesem Augenblick ist das Bild im Künst
ler da. Es ist ganz da; die Natur gibt, äußerlich betrachtet,
gar nichts mehr hinzu; in dieser, man möchte sagen, rein
ornamentalen, naturlosen Konzeption des ersten Augenblicks
ist schon die ganze Ausführung vorweggenommen. Aber nur
vorweggenommen. Genauer zu reden: geweissagt. Denn die
Ausführung ist nun mit nichten etwa eine einfache mechanische
des in der Vision geschaffenen Bildes, sondern sie ist ein
ebenso ursprünglicher Vorgang wie jene schöpferische Vision
selber.
Die Ausführung geschieht angesichts der Natur. In der
Auseinandersetzung mit ihr tritt zur Vision die »Form«, Form
in dem Ateliersinn also, wie Hildebrand das Wort in die Theorie
eingeführt hat, wo es die Umformung der Naturform in die