Full text: Der Stern der Erlösung

OFFENBARUNG 
2 49 
lm einzelnen Werk der bildenden Kunst ist nun das Grund 
legende, das, worauf wie auf einem Skelett das Werk auf 
gebaut ist und was doch eben als Skelett noch erst der bloße 
Anfang, der bloße Schöpfungstag des Werks ist, etwas was 
wir in Ermanglung eines feststehenden Ausdruckes »Vision« 
nennen wollen. Was ist denn der Anfang des Werks der bil 
denden Kunst? Doch dies, daß das Ganze des Werks als ein 
in alle Einzelheiten ausgebildetes Ganzes mit einem Mal dem 
Künstler vor dem inneren Auge steht. Was er da sieht, hat 
gar keine Beziehung auf'die »Natur«, selbst wenn dies Auf 
springen des Ganzen scheinbar im Angesicht der Natur ge 
schehen ist. Sondern im Gegenteil: der »Natureindruck« muß 
in diesem schöpferischen Augenblick völlig verdrängt sein, um 
dem Aufflammen der Vision Platz zu machen; man kann 
sagen: der Künstler, selbst etwa der Porträtkünstler in der 
ersten Sitzung, betrachtet seinen »Vorwurf« nur deshalb so 
eindringlich, um über den Eindruck und die Eindrücke hinaus 
zukommen; er sieht ihn sich also eigentlich nur an, um ihn 
nicht mehr zu sehen. In dem Augenblick, wo er ihn nicht mehr 
sieht, sondern an seiner Stelle ein von aller Natur losgelöstes 
Ganzes von Richtungen, Verhältnissen, Intensitäten, von 
»Formen« also und »Valeurs«, um die Atelierausdrücke zu 
gebrauchen, erst in diesem Augenblick ist das Bild im Künst 
ler da. Es ist ganz da; die Natur gibt, äußerlich betrachtet, 
gar nichts mehr hinzu; in dieser, man möchte sagen, rein 
ornamentalen, naturlosen Konzeption des ersten Augenblicks 
ist schon die ganze Ausführung vorweggenommen. Aber nur 
vorweggenommen. Genauer zu reden: geweissagt. Denn die 
Ausführung ist nun mit nichten etwa eine einfache mechanische 
des in der Vision geschaffenen Bildes, sondern sie ist ein 
ebenso ursprünglicher Vorgang wie jene schöpferische Vision 
selber. 
Die Ausführung geschieht angesichts der Natur. In der 
Auseinandersetzung mit ihr tritt zur Vision die »Form«, Form 
in dem Ateliersinn also, wie Hildebrand das Wort in die Theorie 
eingeführt hat, wo es die Umformung der Naturform in die
	        

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.