248 ZWEITER TEIL: ZWEITES BUCH
blick versenkt bis zur völligen Verlorenheit. Aber indem es
sich also versenkt, tritt es selber in jedem einzelnen Fall aus
seiner Verborgenheit heraus: während es der Fülle der Ein
zelheiten gegenüber erst bloß ein »verborgenes« Ganzes war,
wird es sich jetzt in der Beseelung der Einzelheit selber offen
bar; denn die Seele, die das Einzelne gewinnt, gewinnt es ja
nur aus der eben hieraus sich offenbarenden, gegenüber der
Fülle der Einzelheit noch verborgenen Seele des Ganzen.
»Episch« und »lyrisch« in diesem Sinn sind Eigenschaften
jedes Kunstwerks, aber, wie gesagt, in verschiedener Mischung.
Schon die verschiedenen Künste unterscheiden sich nach dem
verschiedenen Hervortreten dieser Grundeigenschaften. Über
wiegend »episch« sind die bildenden Künste, schon aus dem
einfachen Grunde, daß sie ihre Werke in den Raum setzen.
Denn der Raum ist die Form des Nebeneinander und also ohne
weiteres die Form, in der die Fülle der Einzelheiten unmittel
bar mit einem Schlage ästhetisch überblickbar ist. Aus dem
entsprechenden Grund ist die Musik überwiegend »lyrisch«,
denn sie stellt ihre Werke in den Fluß der Zeit, und die Zeit
ist die Form, die jeweils immer nur einen einzelnen Augen
blick ins Bewußtsein treten läßt; so daß also das Kunstwerk
hier notgedrungen in lauter kleinsten Partikeln aufgenommen
werden muß. Nirgends spielt denn auch die Einzelschönheit
eine solche Rolle wie in der Musik. Das Aufnehmen der
Musik wird viel eigentlicher als »Genuß« empfunden und führt
zu einer weit inbrünstigeren, um nicht zu sagen brünstigeren
Selbstvergessenheit als das Aufnehmen von Werken bildender
Kunst. Bei diesen ist wiederum ein Grad von Objektivität
beim Genuß möglich und berechtigt, der sich ebenfalls erklärt
aus dem Charakter der bildenden Kunst, ein mit einem Blick
als ästhetisches Ganzes, also eben wirklich »gegenständlich«,
Überschaubares zu sein. Der »Kenner« ist hier so heimisch
wie der »Genießer« in der Musik. Alle diese Unterscheidungen
sind natürlich nicht starr, sondern lassen Raum für Über
gänge.