ZWEITER TEIL: ZWEITES BUCH
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schehenen namentlichen Berufung zum Glauben findet der
erlebte Glaube Ruhe. Gewiß, schon vorher konnte ihn nichts
von Gott scheiden, aber doch nur, weil er in seiner Vertiefung
ins Gegenwärtige nichts außer sich sah. Jetzt darf er ruhig
die Augen öffnen und um sich schauen in die Welt der Dinge;
es gibt kein Ding, das ihn von Gott scheiden könnte; denn in
der Welt der Dinge erblickt er in der unverrückbaren Tatsäch
lichkeit eines geschichtlichen Ereignisses den gegenständlichen
Grund seines Glaubens. Die Seele kann mit offenen Augen
und ohne zu träumen sich in der Welt umtun; immer bleibt
sie nun in Gottes Nähe. Das »Du bist mein«, das ihr gesagt
ist, zieht einen schützenden Kreis um ihre Schritte. Sie weiß
nun, daß sie nur die Rechte auszustrecken braucht, um zu
fühlen, daß Gottes Rechte ihr entgegenkommt. Sie kann nun
sprechen: mein Gott, mein Gott. Sie kann nun beten.
Das ist das Letzte, was in der Offenbarung erreicht wird,
ein Überschießen des höchsten und vollkommensten Ver
trauens der Seele: das Gebet. Es wird hier gar nicht gefragt,
ob dem Gebet Erfüllung wird. Das Gebet selbst ist die Er
füllung. Die Seele betet mit den Worten des Psalms: Laß mein
Gebet und deine Liebe nicht von mir weichen. Sie betet um
das Betenkönnen, das mit der Gewißheit der göttlichen Liebe
ihr schon gegeben ist. Daß sie beten kann, ist das Größte, was
ihr in der Offenbarung geschenkt wird. Es ist nur ein Beten
können. Indem es das Höchste ist, tritt es schon über die
Grenze dieses Bezirks hinaus. Denn mit dem Geschenk des
Betenkönnens ist ihr ein Betenmüssen auferlegt. In der Gottes
nähe des unbedingten Vertrauens, dessen Kraft Gott ihr mit
seinem in der Vergangenheit gegründeten »Du bist mein« ver
liehen hat, findet ihr Glaube Ruhe. Ihr Leben aber bleibt in
Unruhe; denn was sie als Begründung ihres Glaubens in der
Welt besitzt, ist nur ein Stück Welt, nicht die ganze. Ihr Er
lebnis füllt sie ganz; die geschichtliche Wirklichkeit aber, die
dem Erlebnis in der Schöpfung zugrunde liegt, ist nicht das
Ganze der Welt, sondern nur ein Teil. So wird ihr Beten
können ein Betenmüssen. Gottes Stimme, die ihr Inneres er