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ZWEITER TEIL: ZWEITES BUCH
So ist das Gebot reine Gegenwart. Während nun aber
jedes andre Gebot, sieht man es nur von außen und gewisser
maßen nachträglich an, ebensogut auch Gesetz gewesen sein
könnte, ist das eine Gebot der Liebe schlechthin unfähig,
Gesetz zu sein; es kann nur Gebot sein. Alle andern Gebote
können ihren Inhalt auch in die Form des Gesetzes gießen,
dieses allein verweigert sich solchem Umguß, sein Inhalt
leidet nur die eine Form des Gebots, der unmittelbaren Gegen
wärtigkeit und Einheit von Bewußtsein, Ausdruck und Erfül
lungserwartung. Deshalb, als das einzige reine Gebot, ist es
das höchste aller Gebote, und wo es als solches an der Spitze
steht, da wird alles, was sonst und' von außen gesehen wohl
auch Gesetz sein könnte, gleichfalls Gebot. So wird, weil
Gottes erstes Wort an die sich ihm erschließende Seele das
»Liebe mich« ist, alles, was er ihr sonst noch in der Form des
Gesetzes offenbaren mag, ohne weiteres zu Worten, die er ihr
»heute« gebietet, wird zur Ausführung des einen und ersten
Gebots, ihn zu lieben. Die ganze Offenbarung tritt unter das
große Heute; »heute« gebietet Gott, und »heute« gilt es, seiner
Stimme zu hören. Es ist das Heute, in dem die Liebe des
Liebenden lebt, — dies imperativische Heute des Gebots.
Und wie nur aus dem Munde des Liebenden dieser Impe
rativ kommen kann, aus diesem Munde aber auch kein andrer
Imperativ als dieser, so ist nun das Ich des Sprechers, das
Stammwort des ganzen Offenbarungsdialogs, auch das Siegel,
das, jedem Wort aufgedrückt, das einzelne Gebot als Gebot der
Liebe kennzeichnet. Das »Ich der Ewige«, dies Ich, mit dem als
dem großen, die eigene Verborgenheit verneinenden Nein des
verborgenen Gottes die Offenbarung anhebt, begleitet sie
durch alle einzelnen Gebote hindurch. Dies »Ich der Ewige«
schafft der Offenbarung im Propheten ein eigenes Werkzeug
und einen eigenen Stil. Der Prophet ist nicht Mittler zwischen
Gott und den Menschen, er empfängt nicht die Offenbarung
und gibt sie weiter, sondern unmittelbar aus ihm tönt die
Stimme Gottes, unmittelbar aus ihm spricht Gott als Ich.
Nicht wie der Meister des großen Plagiats an der Offenbarung