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ZWEITER TEIL: ZWEITES BUCH
Schlange wars. Das Selbst will mit einem stärkeren Zauber
als der bloßen Frage nach dem Du beschworen sein, auf daß
es seinen Mund zum Ich auftue. An Stelle des unbestimmten,
bloß hinweisenden und so vom Menschen auch mit bloßem
Hinweise — das Weib, die Schlange — beantworteten Du tritt
der Vokativ, der Anruf; und jeder Ausweg zur Vergegen-
ständlichung wird dem Menschen abgeschnitten, indem an
Stelle seines Allgemeinbegriffes, der sich hinter das Weib und
hinter die Schlange flüchten kann, das Unfliehbare angerufen
wird, das schlechthin Besondere, Begriffslose, dem Macht
bereich der beiden Artikel, des bestimmten und unbestimmten,
das alle Dinge, wenn auch nur als Gegenstände einer all
gemeinen, keiner besonderen Vorsehung, umfaßt, Entrückte:
der Eigenname. Der Eigenname, der doch kein Eigemname
ist, nicht ein Name, den sich der Mensch willkürlich gegeben
hat, sondern der Name, den ihm Gott selber geschöpft hat,
und der nur deshalb, nur als Schöpfung des Schöpfers, sein
eigen ist. Der Mensch, der auf Gottes »Wo bist Du?« noch
als trotziges und verstocktes Selbst geschwiegen hatte, ant
wortet nun, bei seinem Namen, doppelt, in höchster, unüber
hörbarer Bestimmtheit gerufen, ganz aufgetan, ganz aus
gebreitet, ganz bereit, ganz — Seele: »Hier bin ich«.
Hier ist das Ich. Das einzelne menschliche Ich. Noch ganz
empfangend, noch nur aufgetan, noch leer, ohne Inhalt, ohne
Wesen, reine Bereitschaft, reiner Gehorsam, ganz Ohr. In
dieses gehorsame Hören fällt als erster Inhalt das Gebot. Die
Aufforderung zu hören, der Anruf beim Eigennamen und das
Siegel des redenden göttlichen Mundes — das alles ist nur
Einleitung, vorklingend jedem Gebot, in voller Ausführlichkeit
vorgesprochen nur vor dem einen Gebot, das nicht das
höchste ist, sondern in Wahrheit das einzige, Sinn und Wesen
aller Gebote, die je aus Gottes Munde kommen mögen.
Welches ist dies Gebot aller Gebote?
Die Antwort auf diese Frage ist allbekannt; Millionen
Zungen bezeugen sie spät und früh: »Du sollst lieben den
Ewigen, deinen Gott, von ganzem Herzen und von ganzer