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ZWEITER TEIL: ZWEITES BUCH
gehenden Heidentums, des Stoizismus, wie andrerseits auch
ein Vorbote der neuheidnischen Ethik der virtu, wie sie bis
in unsre Tage fortlebt. Es gibt bei dem großen Reformator
des Islam Gazali eine höchst bezeichnende Auseinander
setzung, in der dieses ganze Verhältnis sowie auch jene
historischen Vergleichspunkte unmittelbar ins Auge springen.
Er stellt der Keuschheit Jesu die Sinnlichkeit Muhameds
gegenüber und rühmt seinen Propheten vor dem der Naza
rener: Muhamed beweise sich darin als der größere; denn
seine Inbrunst zu Gott sei stark genug gewesen, um über die
Befriedigung der Triebe noch hinwegzulodern; der Prophet
der Nazarener habe auf diese Befriedigung verzichten müssen,
weil seine Frömmigkeit nicht heiß genug gebrannt habe, um
nicht darin zu erlöschen. So wird hier das Innerste, die
Frömmigkeit selbst, das woran, wenn das Menschen möglich
wäre, alle Leistung erst bemessen werden müßte, unter den
Gesichtspunkt der Leistung gerückt und nach den überwun
denen Hemmnissen bemessen.
Das ist der Mensch, wie er im Islam dem göttlichen
Lieben gegenübersteht. Gar nicht still empfangend, sondern
in immer neuen Taten herandrängend. Aber auch Gottes Liebe
war ja hier gar nicht eigentlich Liebe, sondern ein breites
Ausströmen der Offenbarung nach allen Seiten. So kennt der
Islam so wenig einen liebenden Gott wie eine geliebte Seele.
Gottes Offenbarung geschieht in ruhiger Ausbreitung, das
Empfangen des Menschen geschieht in stürmischem, un
ruhigem Drängen der Tat; sollte da von Liebe die Rede sein,
so müßte Gott das Geliebte, der Mensch der Liebende sein;
damit aber wäre der Sinn der Offenbarung, die von Gott an
den* Menschen geht, zunichte gemacht. Und wirklich ist es
ja im Islam auch eigentlich der Mensch, der die Offenbarung
erzwingt in seiner Bedürftigkeit, deren sich Gott »erbarmt«.
Erbarmen ist eben nicht Liebe. Wie den Offenbarer mit dem
Schöpfer, so vermengt der Islam auch die geliebte Seele mit
der bedürftigen Kreatur. Er bleibt auch hier an den unum-
gewandelten Gestalten kleben, die ihm die heidnische Welt