ZWEITER TEIL: ZWEITES BUCH
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der Liebe durch das ganze Nacht- und Dämrnerreich des ge
schaffenen Lebens zu tragen. Sie steigert sich, weil sie immer
neu sein will; sie will immer neu sein, um beständig sein zu
können; sie kann beständig nur sein, indem sie ganz im Un
beständigen, im Augenblick, lebt, und sie muß beständig sein,
damit der Liebende nicht bloß der leere Träger einer flüch
tigen Wallung sei, sondern lebendige Seele. So liebt Gott
auch.
Aber liebt er denn? Dürfen wir ihm Liebe zuschreiben?
Schließt der Begriff der Liebe nicht Bedürftigkeit ein? Und
könnte Gott bedürftig sein? Haben wir nicht dem Schöpfer
abgesprochen, daß er aus Liebe schafft, um ihm nicht Be
dürftigkeit zusprechen zu müssen? Und nun sollte der Offen
barer dennoch aus Liebe sich offenbaren?
Aber weshalb haben wir dem Schöpfer Bedürftigkeit ab
gesprochen? Weil sein Schaffen nicht Willkür, nicht Einfall,
nicht Not des Augenblicks sein soll, sondern Eigenschaft und
dauerndes Wesen. Und Eigenschaft und dauerndes Wesen
darf allerdings die Bedürftigkeit für Gott nicht sein. Aber
das ist die Liebe ja auch nicht. Sie ist nicht Eigenschaft des
Liebenden; er ist nicht ein Mensch, der liebt; daß er liebt,
ist nicht nähere Bestimmung eines Menschen. Sondern Liebe
ist momenthafte Selbstverwandlung, Selbstverleugnung des
Menschen; er ist gar nichts andres mehr als Liebender, wenn
er liebt; das Ich, das sonst die Eigenschaften tragen würde,
ist in der Liebe im Augenblick der Liebe restlos verschwun
den; der Mensch stirbt in den Liebenden hinüber und steht
in ihm wieder auf. Bedürftigkeit wäre eine Eigenschaft. Wie
aber hätte eine Eigenschaft Platz in dem engen Raume eines
Augenblicks? Ist es denn also überhaupt wahr, daß Liebe
Bedürftigsein bedeutet? Vielleicht geht es ihr voraus. Aber
was weiß sie denn, was ihr vorausgeht? Der Augenblick, der
sie erweckt, ist ihr erster; mag, von außen gesehen, ihr ein
Bedürfnis zugrunde liegen — was heißt das anders, als daß
der Punkt des geschaffenen Daseins, den sie noch nicht mit