OFFENBARUNG
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schenkt sich in der Liebe. Die Geliebte empfängt das
Geschenk; dies, daß sie es empfängt, ist ihre Gegengabe, aber
im Empfangen bleibt sie bei sich und wird ganz ruhend und in
sich selige Seele. Aber der Liebende — er entringt seine
Liebe dem Stamm seines Selbst, wie der Baum sich seine
Zweige entringt, jeder Ast entbricht dem Stamm und weiß
nichts mehr von ihm, den er verleugnet; aber der Baum steht
da im Schmuck seiner Äste, die zu ihm gehören, ob sie gleich
ein jeder ihn verneinen; er hat sie nicht freigelassen, er ließ
sie nicht zu Boden fallen wie reife Früchte; jeder Zweig ist
sein Zweig und ist doch ganz Zweig für sich, an eigener, nur
ihm allein eigener Stelle hervorgebrochen und dieser Stelle
dauernd verbunden. So ist die Liebe des Liebenden in den
Augenblick ihres Ursprungs eingewachsen, und weil sie das
ist, muß sie alle andern Augenblicke, muß sie das Ganze des
Lebens verleugnen; sie ist treulos in ihrem Wesen, denn ihr
Wesen ist der Augenblick; und so muß sie sich, um treu zu
sein, jeden Augenblick erneuen, ein jeder Augenblick muß ihr
zum ersten Blick der Liebe werden. Nur durch diese Ganz
heit in jedem Augenblick kann sie ein Ganzes geschaffenen
Lebens ergreifen, aber dadurch kann sie es auch wirklich; sie
kanns, indem sie dieses Ganze mit immer neuem Sinn durch
läuft und bald dies, bald jenes Einzelne darin bestrahlt und
belebt, — ein Gang, der, alle Tage neu beginnend, nie an sein
Ende zu kommen braucht, der jeden Augenblick, weil er ganz
in diesem Augenblick ist, auf der Höhe zu sein meint, über
die nichts mehr hinausliegt, und dennoch mit jedem neuen
Tag erfährt, daß er das Stück Leben, das er liebt, noch nie
so sehr geliebt hat wie heute; alle Tage hat Liebe das Ge
liebte ein bißchen lieber. Diese stete Steigerung ist die Form
der Beständigkeit in der Liebe, indem und weil sie doch
höchste Unbeständigkeit und nur dem einzelnen gegenwär
tigen Augenblick gewidmete Treue ist; sie kann aus tiefster
Untreue so zur beständigen Treue werden und nur daraus;
denn nur die Unbeständigkeit des Augenblicks befähigt sie,
jeden Augenblick wieder für neu zu erleben und so die Fackel