ZWEITER TEIL: ERSTES BUCH
sicht es zu werden als jeder andere Mensch, während andrer
seits ein Genie, das es einmal ist, nie aufhört es zu sein; noch
Verkommenheit, noch Wahnsinn sind beim Genie genial. Das
Werden des Urhebers stellt sich nun für die Kunstlehre', die
ja nichts von Persönlichkeit und Selbst zu wissen braucht, so
dar, daß ein zuvor bestehendes, gewissermaßen vorgeniales
Ganzes des Menschen — eben, wie wir wissen, die Persön
lichkeit — den Komplex der genialen Eigenschaften — nämlich,
wie wir wissen, das Selbst — aus sich herausstellt und frei
macht, frei zur Urheberschaft des Werks.
Im Urheber selbst, innerhalb also des »Genies«, — und, wie
in den nächsten Büchern auszuführen sein wird, auch im Werk
und im Betrachter — wird wiederum die ganze Bahn des
Lebens ausgeschritten. Das Genie ist kehr wenig, wenn es
bloß Genie ist, es muß sich in sich steigern und vollenden. Daß
er Genie ist, daß die Fähigkeit, Urheber des Werks zu sein,
in den Menschen eingezogen ist, das ist selber wieder nur ein
Anfang, der Anfang eines neuen Anfangs. Aus der Geschlossen
heit dieses Urheberseinkönnens muß er — dies ist sein erster
Schritt — zum wirklichen Schöpfer werden, zum »Poeten« im
Ursinn des Wortes, zum »Dichter« in dem Sinn, den dies Wort
heute im Gegensatz zu »Künstler«, etwa Balzac gegenüber
Flaubert, die Lagerlöf gegenüber der Huch, angenommen hat
(obwohl es in Wahrheit keinen Dichter gibt, der nicht auch
Künstler wäre). Die Fähigkeit, Urheber zu sein, muß eine
innere Mannigfaltigkeit, eine Welt von Geschöpfen, Einfällen,
Gedanken in ihm freisetzen, die doch durch die innere persön
liche Art des Künstlers in einem in sich einträchtigen Bei
einander zusammengehalten werden. Alle Gedanken, Einfälle,
Schöpfungen Beethovens, Goethes, Rembrandts in den ver
schiedensten Werken bilden ja unter sich gewissermaßen eine
»Familie«; die Familienähnlichkeit verbindet sie, ungeachtet
sie nicht äußerlich zur Einheit des gleichen Werks geformt
sind. Dies ist das Schöpfertum des Genies, dies daß es
»innerlich voller Figur« ist. Es ist der Urgrund aller seiner
Wirklichkeit. Wer nicht Schöpfer ist, wem nichts einfällt, wem