Full text: Der Stern der Erlösung

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ERSTER TEIL: EINLEITUNG 
die ihm den Tod als ihren besonderen Schützling und als die 
großartige Gelegenheit anpreist, der Enge des Lebens zu ent 
rinnen, scheint ihm nur zu höhnen. Der Mensch fühlt eben gar 
zu gut, daß er zwar zum Tode, aber nicht zum Selbstmord 
verurteilt ist. Und nur den Selbstmord vermöchte jene philo 
sophische Empfehlung wahrhaft zu empfehlen, nicht den ver 
hängten Tod Aller. Der Selbstmord ist nicht der natürliche 
Tod, sondern der widernatürliche schlechtweg. Die grauen 
hafte Fähigkeit zum Selbstmord unterscheidet den Menschen 
von allen Wesen, die wir kennen und die wir nicht kennen. 
Sie bezeichnet geradezu diesen Heraustritt aus allem Natür 
lichen. Es ist wohl nötig, daß der Mensch einmal in seinem 
Leben heraustrete; er muß einmal die kostbare Phiole voll 
Andacht herunterholen; er muß sich einmal in seiner furcht 
baren Armut, Einsamkeit und Losgerissenheit von aller Welt 
gefühlt haben und eine Nacht lang Aug in Auge mit dem Nichts 
gestanden sein. Aber die Erde verlangt ihn wieder. Er darf 
den braunen Saft in jener Nacht nicht austrinken. Ihm ist ein 
anderer Ausweg aus dem Engpaß des Nichts bestimmt, als 
dieser Sturz in das Gähnen des Abgrunds. Der Mensch soll 
die Angst des Irdischen nicht von sich werfen; er soll in der 
Furcht des Todes — bleiben. 
Er soll bleiben. Er soll also nichts andres, als was er 
schon will: bleiben. Die Angst des Irdischen soll von ihm ge 
nommen werden nur mit dem Irdischen selbst. Aber solang 
er auf der Erde lebt, soll er auch in der Angst des Irdischen 
bleiben. Und die Philosophie betrügt ihn um dieses Soll, 
indem sie den blauen Dunst ihres Allgedankens um das Irdische 
webt. Denn freilich: ein All würde nicht sterben und im All 
stürbe nichts. Sterben kann nur das Einzelne, und alles Sterb 
liche ist einsam. Dies, daß die Philosophie das Einzelne aus 
der Welt schaffen muß, diese Abschaffung des Etwas ist auch 
der Grund, weshalb sie idealistisch sein muß. Denn der »Idea 
lismus« mit seiner Verleugnung alles dessen, was das Einzelne 
vom All scheidet, ist das Handwerkszeug, mit dem sich die 
Philosophie den widerspenstigen Stoff so lange bearbeitet, bis
	        
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