METAETHIK
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baren Schauens und nur am Ort des Schauens. Das Selbst
wird nicht lebendig, indem es vernommen wird. Das Leben,
das im Betrachter erweckt wird, erweckt nicht das Betrach
tete zum Leben; es wendet sich im Betrachter selber sogleich
nach innen. Das Reich der Kunst gibt den Boden, wo überall
das Selbst erwachsen kann; aber jedes Selbst ist wieder ein
ganz einsames, einzelnes Selbst; die Kunst schafft nirgends
eine wirkliche Mehrheit von Selbsten, obwohl sie überall die
Möglichkeit zum Erwachen von Selbsten herstellt: das Selbst,
das erwacht, weiß dennoch nur von sich selbst. Mit andern
Worten: das Selbst bleibt in der Scheinwelt der Kunst stets
Selbst, wird nicht — Seele.
Und wie sollte es Seele werden? Seele, das hieße heraus
treten aus der in sich gekehrten Verschlossenheit; aber wie
sollte das Selbst heraustreten? wer sollte es rufen — es ist
taub; was sollte es hinauslocken — es ist blind; was sollte es
draußen anfangen — es ist stumm. Es lebt ganz nach innen.
Die Zauberflöte der Kunst allein konnte das Wunder voll
bringen, den Gleichklang des menschlichen Gehalts in den
Getrennten erklingen zu lassen. Und wie begrenzt war noch
diese Magie! Wie blieb es eine Scheinwelt, eine Welt der
bloßen Möglichkeiten, die hier entstand. Der gleiche Klang
ertönte und wurde doch überall nur im eigenen Innern ver
nommen; keiner spürte das Menschliche als das Menschliche
in andern, jeder nur unmittelbar im eigenen Selbst. Das Selbst
blieb ohne Blick über seine Mauern, alle Welt blieb draußen.
Hatte es sie in sich, so nicht als Welt, sondern nur als seinen
eigenen Besitz. Die Menschheit, von der es wußte, war allein
die in seinen eigenen vier Wänden. Es selbst blieb sich der
einzige andre, den es sah, und jeder andre, der von ihm
gesehen werden wollte, mußte in diesen seinen Sehraum
hineingehn und darauf verzichten, als andrer gesehen zu
werden. Die ethischen Ordnungen der Welt verloren so in
diesem Sehraum des eigensinnigen Selbst allen eigenen Sinn;
sie wurden zum bloßen Inhalt seiner Selbstschau. So mußte
es wohl bleiben, was es war, das über alle Welt weggehobene,