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ERSTER TEIL: DRITTES BUCH
getrennt und Träger des Selbst. Aber diese Verkettung des
Selbst mit einem letzthin eben doch nur natürlichen Träger,
eben der »Seele«, macht die Unsterblichkeit zu einem höchst
prekären Besitz. Die Seele, wird behauptet, kann nicht
sterben; aber da sie in die Natur verflochten ist, so wird das
Nichtserbenkönnen zur unermüdlichen Verwandlungsfähigkeit;
die Seele stirbt nicht, aber sie wandert durch die Leiber. So
wird dem Selbst in der Unsterblichkeit das Danaergeschenk
der Seelenwanderung mitgegeben und damit die Unsterblich
keit gerade für das Selbst entwertet. Denn das Selbst, wenn
es denn im Trotz auf die Unbeschränktheit seines vergäng
lichen Wesens Unsterblichkeit verlangt, verlangt eine Unsterb
lichkeit ohne Wandel und Wanderung; es verlangt Selbst*
Erhaltung. Indem es aber mit der »Seele« verkettet wird, der
»Seele« nach dem antiken Sinn des Worts, der ausdrücklich
nicht das Ganze des Menschen, sondern nur einen »Teil«, den
nichtsterbenkönnenden, bezeichnet, wird dem Selbst sein Ver
langen nur wie zum Hohne erfüllt. Das Selbst bleibt es selbst,
aber es geht durch die unkenntlichsten Gestalten, denn keine
jener Gestalten wird sein Besitz; aber es behält auch sein
Eigenes, den Charakter, die Eigenart, nur dem Namen nach;
in Wahrheit bleibt ihm bei seinem Gang durch die Gestalten
nichts Erkennbares davon übrig. Es bleibt Selbst nur in seiner
vollkommenen Stummheit und Beziehungslosigkeit; die behält
es auch bei seiner Verwandlung; es bleibt immer das einzelne,
einsame, sprachlose Selbst. Eben auf diese Sprachlosigkeit
müßte es Verzicht tun, es müßte aus dem einsamen Selbst zur
sprechenden Seele werden, — Seele aber hier in einem andern
Sinn, wo das Wort ein Ganzes des Menschen jenseits des
Gegensatzes von »Leib und Seele« meint. Würde das Selbst
zur Seele in diesem Sinn, dann wäre ihm auch Unsterblichkeit
in einem neuen Sinn gewiß, und der gespenstische Gedanke
der Seelenwanderung verlöre seine Kraft. Aber wie das
geschehen sollte, wie dem Selbst die Zunge gelöst, das Ohr
erschlossen werden sollte, das ist vom Selbst aus, wie wir es
bis jetzt kennen, gar nicht vorzustellen. Vom in sich ver