Full text: Der Stern der Erlösung

METAETHIK 
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Selbst, und ehe sie das tun, dulden sie lieber stumm und stei 
gen die Stufen der inneren Erhöhung des Selbst hinan wie 
Ödipus, dessen Tod das Rätsel seines Lebens ganz ungelöst 
läßt und dennoch, gerade weil er es gar nicht berührt, den 
Helden in seinem Selbst ganz einschließt und befestigt. 
Überhaupt ist dies der Sinn des Untergangs des Helden. 
In der Tragödie wird leicht der Anschein erweckt, als müßte 
der Untergang des Einzelnen irgend ein gestörtes Gleichge 
wicht der Dinge wiederherstellen. Aber dieser Anschein be 
ruht nur auf dem Widerspruch zwischen dem tragischen Cha 
rakter und der dramatischen Fabel; das Drama als Kunstwerk 
braucht beide Hälften dieses Widerspruchs, um zu bestehen; 
aber das eigentlich Tragische wird dadurch verwischt. Der 
Held als solcher muß nur untergehen, weil der Untergang ihm 
die höchste Verheldung, nämlich die geschlossenste Ver- 
selbstung seines Selbst ermöglicht. Er verlangt nach der 
Einsamkeit des Untergangs, weil es keine größere Einsamkeit 
gibt als diese. Deshalb stirbt der Held eigentlich auch nicht. 
Der Tod sperrt ihm gewissermaßen nur die Temporalien der 
Individualität. Der zum heldischen Selbst geronnene Cha 
rakter ist unsterblich. Die Ewigkeit ist ihm gerade gut genug, 
sein Schweigen wiederzutönen. 
Unsterblichkeit — damit haben wir ein letztes Verlangen 
des Selbst berührt. Nicht die Persönlichkeit, aber das Selbst 
fordert für sich Ewigkeit. Die Persönlichkeit begnügt sich an 
der Ewigkeit der Beziehungen, in die sie ein- und aufgeht; das 
Selbst hat keine Beziehungen, es kann keine eingehen, es 
bleibt immer es selbst. So ist es sich bewußt, ewig zu sein; 
seine Unsterblichkeit ist Nichtsterbenkönnen. Alle antike 
Unsterblichkeitslehre kommt auf dies Nichtsterbenkönnen des 
losgelösten Selbst hinaus; die Schwierigkeit besteht theo 
retisch nur darin, diesem Nichtsterbenkönnen einen natür 
lichen Träger, ein »etwas«, das nicht sterben kann, ausfindig 
zu machen. So kommt die antike Psychologie zustande. Die 
Psyche soll das natürliche Etwas sein, das schon von Natur 
wegen todesunfähig ist. So wird sie vom Leib theoretisch
	        

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