METAETHIK
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im Charakter stecken; es gibt keine charakterstarrere Welt
als die der indischen Dichtung; es gibt auch kein Menschheits
ideal, das so allen Gliederungen des natürlichen Charakters
eng verhaftet bleibt wie das indische; nicht den Geschlechtern
etwa oder den Kasten nur gilt ein besonderes Lebensgesetz,
sondern sogar den Lebensaltern; dies ist das Höchste, daß der
Mensch diesem Gesetz seiner Besonderheit gehorcht; nicht
jeder hat das Recht oder gar die Pflicht, etwa Heiliger zu sein;
ganz im Gegenteil ist es dem Manne, der noch keine Familie
gegründet hat, gradezu verwehrt; auch Heiligkeit ist hier eine
Besonderheit unter anderen, während das Heroische das all
gemeine und gleiche innere Lebensmuß eines jeden ist. Wieder
greift erst die in Buddha aufgipfelnde Askese hinter diese
Besonderheit des Charakters zurück. Der Vollendete ist von
allem erlöst, nur von seiner eigenen Vollendetheit nicht. Alle
Bedingungen des Charakters sind fortgefallen, es gilt hier
weder Alter noch Kaste noch Geschlecht; aber geblieben ist
der eine unbedingte nämlich von aller Bedingung erlöste
Charakter, eben der des Erlösten. Auch das ist ja noch
Charakter; der Erlöste ist geschieden vom Unerlösten; aber
die Scheidung ist eine ganz andre als die, welche sonst
Charakter von Charakter scheidet; sie liegt hinter diesen be
dingten Scheidungen als die eine unbedingte. So ist der
Erlöste der Charakter im Augenblick seines Hervorgehens aus
— oder richtiger: seines Eingehens in das Nichts. Zwischen
dem Erlösten und dem Nichts liegt wirklich nichts weiter
mehr als der Beisatz von Individualität, mit dem der
Charakter infolge der Weltteilhaftigkeit alles Lebendigen, so
lange es lebt, versetzt ist. Der Tod, der dies Stück Individua
lität in die Welt zurückfluten läßt, räumt diese letzte Scheide
wand, die den Erlösten vom Nichts scheidet, weg und ent
kleidet ihn sogar des Charakters der Erlöstheit.
Was Indien dem Charakter und der Besonderheit zu viel
gibt, das tut China zu wenig. Während die Welt hier reich
und überreich an Individualität ist, ist der Mensch, soweit er
nicht als Weltteil gewissermaßen von außen gesehen wird, der