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ERSTER TEIL: DRITTES BUCH
liegt in seinem Rücken; es ist »darüber hinaus«, — nicht als
ob es sie nicht brauchte, aber in dem Sinn, daß es ihre Gesetze
nicht als seine Gesetze anerkennt, sondern als bloße Voraus
setzungen, die ihm gehören, ohne daß es hinwiederum ihnen
gehorchen müßte. Die Welt des Ethischen ist dem Selbst bloß
— »sein« Ethos; weiter ist nichts von ihr geblieben. Das Selbst
lebt in keiner sittlichen Welt, es hat sein Ethos. Das Selbst
ist meta*ethisch.
Das Selbst in seiner gebirgshaft »edebstummen« Einsam
keit, in seiner Gelöstheit von allen Beziehungen des Lebens,
seiner erhabenen Beschränktheit in sich selbst — woher ist
es uns bekannt, wo haben wir es schon mit Augen gesehen?
Die Antwort wird leicht, wenn wir uns erinnern, wo wir den
metaphysischen Gott, die metalogische Welt als Gestalten des
Lebens erblickt haben. Auch der metaethische Mensch ist in
der Antike, und vornehmlich wieder in der wahrhaft klas
sischen Antike der Griechen, lebendige Gestalt gewesen.
Gerade dort, wo die persönlichkeitenverzehrende Kraft der
Gattung sich in der Erscheinung der Polis, uneingeschränkt
durch Gegenkräfte, Gestalt gab, gerade dort nahm auch die
aller Rechte der Gattung sich überhebende Gestalt des Selbst
in stolzer Vereinzelung ihren Thronsitz ein, wohl auch in den
Ansprüchen der sophistischen Theorien, die das Selbst zum
Maß der Dinge machten, vornehmlich aber, mit der Wucht der
Sichtbarkeit, in den großen Gleichzeitern jener Theorien, den
Helden der attischen Tragödie.
D er antike tragische Held ist nichts andres als das meta
ethische Selbst. Deswegen ist das Tragische nur dort
lebendig geworden, wo das Altertum den ganzen Weg bis zur
Erstellung dieses Menschenbildes ausgeschritten ist. Indien
und China, die auf dem Wege vor erreichtem Ziel Halt
machten, haben das Tragische weder im dramatischen Kunst
werk noch in der Vorform der volkstümlichen Erzählung
erreicht. Indien ist nie bis zur trotzigen Gleichheit des Selbst
in allen Charakteren gekommen; der indische Mensch bleibt