METAETHIK
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bloßen Erinnerung verflüchtigt; aber je weniger er noch Indi
vidualität ist, um so härter wird er als Charakter, um so mehr
wird er Selbst. Das ist die Wesensverwandlung, die Qoethe
am Faust durchführt: der alle seine reiche Individualität schon
zu Beginn des zweiten Teils eingebüßt hat und eben deswegen
zuletzt im Schlußakt als Charakter von vollkommenster Härte
und höchstem Trotz, eben wahrhaft als Selbst erscheint, —
ein treues Bild der Lebensalter.
Das Ethos ist diesem Selbst zwar Inhalt; das Selbst ist
der Charakter; aber es wird von diesem seinem Inhalt nicht
bestimmt; es ist nicht Selbst dadurch, daß es dieser bestimmte
Charakter ist. Sondern Selbst ist es schon dadurch, daß es
überhaupt einen, einerlei welchen, Charakter hat. Während
also die Persönlichkeit Persönlichkeit ist durch ihren festen
Zusamenhang mit der bestimmten Individualität, ist das Selbst
Selbst durch sein bloßes Festhalten an seinem Charakter über
haupt. Oder mit andern Worten: das Selbst »hat« seinen Cha
rakter. Eben die Unwesentlichkeit des bestimmten Charakters
wird ja auch in der allgemeinen Gleichung B=B ausgesprochen.
Dieselbe Besonderheit, die in der Gleichung B=A Individuali
tät, Gegenstand aller Aussagen, Zielpunkt alles Interesses ist,
muß sich hier begnügen, der in seiner Besonderheit allgemeine
Boden zu sein, auf dem sich das stets einzelne und doch
immer gleiche Gebäude des einzelnen Selbst erhebt.
Indem aber das Selbst die Besonderheit der Individualität
so zu seiner bloßen »besonderen Voraussetzung« macht, wird
nun gleichzeitig auch die ganze Welt ethischer Allgemeinheit,
die an dieser ethischen Besonderheit der Individualität hängt,
in diesen bloßen Hintergrund des Selbst geschoben. Mit der
Individualität zusammen sinkt also auch die Gattung, sinken
Gemeinschaften, Völker, Staaten, sinkt die ganze sittliche
Welt zur bloßen Voraussetzung des Selbst herab. Dies alles
ist dem Selbst nur etwas, was es hat; es lebt nicht darin wie
die Persönlichkeit; es ist ihm nicht die Luft seines Daseins, in
der es atmet; Atmosphäre des Daseins ist ihm nur — es selbst.
Die ganze Welt, und insbesondere die ganze sittliche Welt,