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ERSTER TEIL: DRITTES BUCH
in sich verschlossene Daimon überfällt den Menschen das erste
Mal in der Maske des Eros, von da an geleitet er ihn durchs
Leben bis zu jenem Augenblick, wo er die Maske ablegt und
sich ihm enthüllt als Thanatos. Dies ist der zweite, und wenn
man so will der geheimere, Geburtstag des Selbst, wie es der
zweite, und wenn man so will erst der offenkundige, Sterbetag
der Individualität ist. Der natürliche Tod läßt ja auch dem
blödesten Auge offenbar werden, daß die Persönlichkeit sich
entpersönlichen, das Individuelle sich regenerieren lassen
muß. Der Teil des Menschen, an dem die Gattung sich ihr
Recht nicht schon hatte nehmen können, der fällt im Tode dem
nackten, dem übergattungsmäßigen Allgemeinen, der Natur
selber zur Beute. Aber während so in diesem Augenblick das
Individuum den letzten Resten seiner Individualität entsagt
und heimkehrt, erwacht das Selbst zur letzten Vereinzelung
und Einsamkeit. Es gibt keine größere Einsamkeit als in den
Augen eines Sterbenden, und es gibt keine trotzigere, hoch
mütigere Vereinzelung als die, welche sich auf dem erstarrten
Antlitz eines Toten malt. Zwischen diesen beiden Geburten
des Daimon liegt alles, was uns vom Selbst des Menschen
sichtbar wird; was vorher, was nachher? — das sichtbare
Dasein dieser Gestalten ist gebunden an den Lebenskreislauf
der Individualität und verliert sich ins Unsichtbare, wo es sich
von diesem Kreislauf löst. Daß es nur wie an einen Stoff, an
dem es sich sichtbar macht, daran gebunden ist, das lehrt
schon die entgegengesetzte Richtung, die es in den ent
scheidenden Punkten dem Kreislauf gegenüber einhält. Das
Leben des Selbst ist kein Kreislauf, sondern eine aus Un
bekanntem in Unbekanntes führende Grade; das Selbst weiß
nicht, woher es kommt noch wohin es geht. Aber daß die
zweite Geburt des Daimon, die als Thanatos, kein bloßes
Nachspiel ist wie das Sterben der Individualität, das gibt dem
Leben über die Grenzen der Gattung, das im Lichte des Per
sönlichkeitsglaubens eitel und sinnlos ist, seinen eigenen Rang:
dem Greisenalter. Der Greis hat keine Persönlichkeit mehr zu
eigen; sein Anteil am Gemeinsamen der Menschheit ist zur