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Königin den Schlüssel, und sprach, sie sollte niemand davon
etwas sagen.
Die Mutter aber saß nun den ganzen Tag und trauerte,
so daß der kleinste Sohn, der immer bei ihr war und den sie
nach der Bibel Benjamin nannte, zu ihr sprach: „liebe Mut
ter, warum bist du so betraurig?" „Liebstes Kind, antwor
tete sie, ich darf dirs nichr sagen." Er ließ ihr aber keine
Ruhe, bis sie gieng und die Stube ausschloß, und ihm die
zwölf Todtenladen, mit Hobelspänen schon gefüllt, zeigte und
sprach: „mein liebster Benjamin, die hat dein Vater für dich
und deine elf Brüder machen lassen, denn wenn ich ein Mäd
chen zur Welt bringe, so sollt ihr allesammt getödtet und in
den Särgen da begraben werden." Da sagte der Sohn:
„weine nicht, liebe Mutter, wir wollen uns helfen und wol
len fortgehen." Sie sprach: „geh mit deinen elf Brüdern
hinaus in den Wald, und einer setze sich immer auf den höch
sten Baum, der zu finden ist, und halte Wacht und schäm
nach dem Thurm hier im Schloß. Gebär ich ein Söhnlein,
so will ich eine weiße Fahne aufstecken und dann dürft ihr
wiederkommen; gebär ich ein Töchterlein, so will ich eine
rothe Fahne aufstecken, und dann flieht fort und der liebe
Gott behüt euch. Alle Nacht will ich aufstehn und für euch
beten: im Winter, daß ihr an einem Feuer euch wärmen
könnt, im Sommer, daß ihr nicht in der Hitze schmachtet."