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Mährchen von der Unke.
i.
Ein Kind saß vor der Hausthüre auf der Erde und hatte
sein Schüsselchen mit Milch und Weckbrocken neben sich und aß.
Da kam eine Unke gekrochen und senkte ihr Köpfchen Ln die Schüs
sel und aß mit. Am andern Tag kam sie wieder und so eine Zeit
lang jeden Tag. Das Kind ließ sich das gefallen, wie es aber
sah, daß die Unke immerfort blos die Milch trank und die Brok-
ken liegen ließ, nahm es sein köffelchen, schlug ihr ein bischen
auf den Kopf und sagte: „Ding, iß auch Brocken!" Das Kind
war seit der Zeit schön und groß geworden, seine Mutter aber
stand gerade hinter ihm, und sah die Unke, da lief sie herbei und
schlug sie todt; von dem Augenblick an ward das Kind mager
und ist endlich gestorben.
II.
Ein Waisen - Mädchen saß an der Stadtmauer und spann,
sah eine Unke herkommen. Da breitete cs ein blau seiden Tuch,
das die Unken gewaltig lieben und auf das sie allein gehen, ne-
den sich aus. Alsobald die Unke das erblickte, kehrte sie um, keim
wieder und brachte ein kleines goldenes Krönchen getragen, legte
es darauf und ging dann wieder fort. Da nahm das Mädchen
die Krone auf, sie glitzerte und war von zartem Goldgespinst;
nicht lange, so kam die Unke zum zweitenmal wieder, wie sie aber
die Krone nicht mehr sah, kroch sie an die Wand und schlug vor