Full text: Kinder- und Haus-Märchen ([1])

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schuldigte sich, so gut er konnte, mit der Schwan 
gerschaft seiner Frau, und wie gefährlich es sey, 
ihr dann etwas abzuschlagen, endlich sprach die 
Fee.- „ich will mich zufrieden geben und dir selbst 
gestalten Rapunzeln mitzunehmen, so viel du 
willst, wofern du mir das Kind geben wirst, 
womit deine Frau jetzo geht." Zn der Angst 
sagte der Mann alles zu, und als die Frau in 
Wochen kam, erschien die Fee sogleich, nannte 
das kleine Mädchen Rapunzel und nahm es 
mit sich fort. 
Dieses Rapunzel wurde das schönste Kind 
unter der Sonne, wie es aber zwölf Zahr alt 
war, so schloß es die Fee in einen hohen hohen 
Thurm, der hatte weder Thür noch Treppe, nur 
bloß ganz oben war ein kleines Fensterchen. Wenn 
nun die Fee hinein wollte, so stand sie unten 
und rief: 
„Rapunzel, Rapunzel! 
laß mir dein Haar herunter." 
Rapunzel hatte aber prächtige Haare, fein wie 
gesponnen Gold, und wenn die Fee so rief, so 
band sie sie los, wickelte sie oben um einen Fen 
sterhaken und dann fielen die Haare zwanzig Ellen 
tief hinunter und die Fee stieg daran hinauf. 
Eines Tages kam nun ein junger Königs- 
sohn durch den Wald, wo der Thurm stand, 
sah das schöne Rapunzel oben am Fenster ste 
hen und hörte sie mit so süßer Stimme singen. 
daß er sich ganz in sie verliebte. Da aber keine 
Thüre im Thurm war und keine Leiter so hoch 
reichen konnte, so gerieth er in Verzweiflung, 
doch ging er alle Tage in den Wald hin, bis 
er einstmals die Fee kommen sah, die sprach: 
„Rapunzel, Rapunzel! 
laß dein Haar herunter." 
Darauf sah er wohl, auf welcher Leiter man in 
den Thurm kommen konnte. Er hatte sich aber 
die Worte wohl gemerkt, die man sprechen muß 
te, und des andern Tages, als es dunkel war, 
. ging er an den Thurm und sprach hinauf: 
Rapunzel, Rapunzel, 
laß dein Haar herunter! 
da ließ sie die Haare los, und wie sie unten 
waren, machte er sich daran fest und wurde hin 
aufgezogen. 
Rapunzel erschrack nun anfangs, bald aber 
gefiel ihr der junge König so gut, daß sie mir 
ihm, verabredete, er solle alle Tage kommen und 
- hinaufgezogen werden. So lebten sie lustig und 
in Freuden eine geraume Zeit, und die Fee kam 
nicht dahinter, bis eines Tages das Rapunzel 
anfing und zu ihr sagte: „sag' sie mir doch Frau 
Gothel, meine Kleiderchen werden mir so eng 
und wollen nicht mehr passen." Ach du gottlo 
ses Kind, sprach die Fee, was muß ich von dir 
hören, und sie merkte gleich, wie sie betrogen 
wäre, und war ganz aufgebracht. Da nahm sie
	        
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