Aus der Gesehiehte Cassels.
Von Paul Heidelbach.
Cassel gehört nicht zu den alten Städten. Trotzdem liegt seine Entstehung noch im
Dunkel. In die Geschichte tritt Cassel als fränkischer Königshof, in dem Konrad I. im Jahre
913 zwei Urkunden ausstellte. Höchstwahrscheinlich hielt Kaiser Otto I. 943 an demselben
Königshof eine feierliche Tagsitzung ab, und 1008 überschrieb Kaiser Heinrich II. diesen
seinen Eigenhof zu Cassel dem von seiner Gemahlin Kunigunde gestifteten nahen Kloster
Kaufungen. Die Lage dieses Hofes mit seinen Wirtschaftsgebäuden ist noch umstritten: ver
mutlich lag er in der Gegend des jetzigen Renthofes und dessen allernächster Umgebung.
Seinen Namen erhielt Cassel nach dem steinernen Haus (chastella) eines sächsischen Edlen,
das auf dem Grundstück der späteren landgräflichen Burg und des heutigen Justizpalastes
gelegen war. Der Klärung bedarf auch noch der Anfall Hessens und mit ihm Cassels an
die thüringischen Landgrafen. Gegen Ende des 12. Jahrhunderts erhielt dann Cassel Stadt
recht und damit seine Mauern, unter deren Schutz sich Handel und Wohlstand der Bürger
entwickeln konnten. Als dann 1247 der Mannesstamm der Landgrafen von Thüringen er
loschen war, wurde Heinrich I. aus Brabanter Stamm, ein Enkel der heiligen Elisabeth, als
erster Landgraf von Hessen anerkannt. Er machte Cassel zu seiner Residenz und legte um
1277 den Grund zu einem neuen Schloß, das fast zwei Jahrhunderte hindurch als Residenz
diente. Die dem hl. Cyriakus geweihte älteste Kirche der kleinen Stadt lag auf dem Mar-
ställer Platz. Noch heute zeigt uns der Graben den Lauf der damaligen Stadtmauer, die
sich vom Schloß bis oberhalb des Brinks und von da bis zum späteren Packhof hinabzog
und durch drei Tore, am Weißen Hof, in der Mitte der Marktgasse und am Steinweg, unter
brochen war. Das schon um die Mitte des 12. Jahrhunderts gegründete Ahnaberger Kloster
und das zu Ende des 13. Jahrhunderts errichtete Elisabethhospital lagen also noch außer
halb der Stadt. Um dieselbe Zeit erhob sich in unmittelbarer Nähe des Schlosses eine
Niederlassung der Karmeliter, deren Siedlung stetig zunahm, wenn auch ihr Gotteshaus, die
Brüderkirche, erst 1376 vollendet wurde. Außer der Cyriakuskirche war auf dem rechten
Fuldaufer, wo die erste größere Ausdehnung der Stadt vor sich ging, noch unter Heinrich I.
eine zweite Pfarrkirche entstanden. Diese in der Spätgotik umgebaute Magdalenenkirche auf
dem jetzigen Holzmarkt, über deren Hochaltar die Wogen der großen Wasserflut von 1342
hinweggingen, fiel erst 1788 dem Bau der neuen Fuldabrücke zum Opfer.
Landgraf Heinrich II., der Eiserne, der auch den Grund zu der 1343 zuerst erwähnten
St. Martinskirche legte, erweiterte Cassel um die sogenannte „Freiheit“. Sie umfaßte zwischen
Graben und Oberster Gasse einerseits und zwischen Steinweg und Marktgasse andererseits
acht neue Quartiere als Obergemeinde der neuen Stadt, während die Untergemeinde noch vier
weitere, auf Brink und Pferdemarkt stoßende Quartiere enthielt. Nun war auch das Elisabeth
hospital, in dessen Nähe jetzt das Zwehrentor gelegt wurde, in die Stadtmauer mit einbezogen.
Cassel bestand jetzt aus drei getrennten Stadtgemeinden, deren jede ihr eigenes Gotteshaus,
Rathaus und Schule hatten. Aber schon bald sehen wir alle drei Städte sich zu kommunaler
Einheit verbinden. Die Auflehnung der Bürger gegen das Zollrecht der Landgrafen ver
nichtete jedoch unter Landgraf Hermann dem Gelehrten die Selbständigkeit Cassels, das fortab
als landgräfliche Residenz den eigenen Willen demjenigen des Landgrafen unterzuordnen
hatte. Hermanns Nachfolger Ludwig der Friedfertige berief die Kogelherren nach Cassel,
denen er den Weißen Hof überließ. Dem Einfluß dieser klösterlichen Genossenschaft, an die
noch das Steinrelief „Marien Elend“ am Eckhaus des Brink erinnert, war es zuzuschreiben,
daß in der folgenden Zeit Cassels Bürgersöhne sich als tüchtige Geschäftsmänner und Ge
lehrte hervortaten. Von demselben Fürsten rührten das erst 1837 abgebrochene Altstädter
Rathaus (1408), der Druselturm (1415) und der Stadtbau (1421) her. Die Einführung der
Reformation in Hessen durch Philipp den Großmütigen besiegelte auch das Schicksal des
Ahnaberger- und Karmeliterklosters, des Weißen Hofes wie der Cyriakuskirche. Die drei
Schulen der Altstadt, Neustadt (Unterneustadt) und Freiheit wurden als Pädagogium oder
Casseler Stadtschule, die auch zum akademischen Studium vorbereitete, im jetzt ver
schwundenen Kreutfgang der Martinskirche vereint. Aber schon bald war eine sogenannte
„deutsche Schule“ nötig, die über dem Tor der Fuldabrücke ihren luftigen Sitz erhielt. In
dieser Zeit hat das Stadtbild starke Veränderungen erfahren. 1521 legte ein in der Müller
gasse ausgebrochener Brand über dreihundert Häuser in Asche. Hand in Hand mit dem
Wiederaufbau ging eine gewaltige Befestigung der Stadt. Kaum aber war das Werk be
endet, als nach der treulosen Gefangennahme Philipps durch Karl V. die Schleifung der
Werke vollzogen und alle Geschütze abgeführt wurden. Fünf Jahre schmachtete der Fürst
in schmählicher Gefangenschaft zu Mecheln, und erst an einem Septembersonntag des Jahres
1552 konnte er ergrauten Hauptes wieder in seine Residenz einziehen, deren Festungswerke
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