Full text: Technisches Gemeindeblatt (9.1906, 13)

suchung des Wasser- und Fettgehalts, schützt aber nicht vor 
Lieferung giftiger und zersetzter Milch. Die Beschaffung einwand- 
freier Säuglingsmilch stellt sich selbst bei städtischer Unterstützung 
zumeist so kostspielig, daß sie ein Luxusartikel wird; ärmeren 
Familien sind Unterstützungen durch gemeinnützige Bestrebungen 
in Berlin, Hamburg, Chemnitz usw. gewährt worden, sie sind aber , 
doch viel zu unbedeutend gegenüber der Gesamtzahl der Ge- 
burten. Erstrebenswert ist, wie v. Behring bemerkt, die Lieferung 
einwandfreier, auch im rohen Zustand ungefährlicher Milch, was 
sich aber nur mit Hilfe von Kühlmaschinen erreichen läßt. Die 
ortsgesetzliche Kontrolle der Milch in den Kleinhandlungen müßte 
sich auch auf Temperatur sowie Säure- und Bakteriengehalt er- 
strecken, und da dies in großen Städten sehr schwierig durchführ- 
bar sein dürfte, hat man die Einrichtung von Milchhöfen vor- 
geschlagen, die in städtischer Verwaltung oder im Besitze von 
Produktivgenossenschaften sein könnten. Angeglledert könnten 
an diese sein die Küchen für Säuglingsmilch. woneben aber die Ge- 
Währung von Prämien an selbststillende Mütter, wie in Charlotten- 
burg und Leipzig, beizubehalten ist. Zur Wertschätzung der Milch als 
Volksnahrungsmittel trägt die Errichtung von Milchhäuschen (Augs- 
burg) bei, ebenso die Gewährung eines Milchfrühstüelts an Schul- 
kinder. Eine durchgreifende Reform der Milchproduktion und des 
Milchhandels erscheint nach. der Darlegung der derzeit bestehenden 
Gefahren für die Milch dringend geboten. 
Korreferent: Beigeordneter Brugger-Cöhl. 
Der Milch wird im Gegcnsatze zu anderen Werten unseres Wirt- 
schaftslebens. wie Kohle, Stahl, Eisen und Getreide, eine unverdiente 
Geringschätzung entgegengebracht. Kaum jemand weiß davon. daß 
der Wert unserer jährlichen Milcherzeugung in Deutschland gering 
gerechnet 1700 ltlilliozlen Mark beträgt und damit dem Werte des 
gesamten Körnerbaues und dem unserer so hoch angesehenen 
chemischen Industrie gleichkommt. Die allgemeine volkswirtschaft- 
liche Bedeutung dieses Nahrungsmittels muß gerade in den Tagen 
ständiger Fleischteuerung in die Augen springen, wenn man erwägt, 
daß ' es die zum Aufbau und zur Erhaltung des menschlichen Körpers 
nötigen Stoffe in besonders glücklicher Mischung enthält und in- 
folge seines geringen Preises auch für die unbemittelte Bevölkerung 
erschwinglich ist. Ein allgemeines Volksnahrungsmittel wird die 
Milch aber erst dann werden, wenn sie ganz allgemein die ihr heute 
noch vielfach fehlende Eigenschaft besitzen wird, wohlschmeckend 
und bekömmlich zu sein. Letzteres ist der Fall, wenn die Milch 
gesund, rein und frisch ist, wenn also die Forderungen erfüllt 
werden, die man vom Standpunkte der Gesundheitspflege erhebt. 
Die Gewinnung einer solchen Milch ist aber zweifellos mit erhöhten 
Kosten verknüpft und muß daher eine Steigerung des Preises her- 
beiführen. Es wird vor allem das Augenmerk darauf zu richten 
sein, diese Preiserhöhung in mäßigen Grenzen zu halten und nur 
allmählich eintreten zu lassen. Eine reichsgesetzliche Festlegung 
der im hygienischen Interesse erhobenen Forderungen wird hierfür 
nicht das richtige Mittel sein. Eine solche Regelung müßtc die 
Verteuerung der Milch mit einem Schlage herbeiführen, und das 
würde bei den Produzenten wie bei den Konsumenten Verstimmung 
hervorrufen. Es muß schrittweise und unter voller Berücksichtigung 
der örtlichen Verhältnisse vorgegangen werden; das aber kann nur 
im Verwaltungswege geschehen. Die Erzeugung eines Liters Milch 
kostet nach zuverlässigen Berichten Sachverständiger 13,5 Pf. am 
Ursprungsort. Dieser Preis wird heute schon gezahlt, ohne daß die 
hygienischen Anforderungen, über deren Notwendigkeit volle Uber- 
einstimmung herrscht, erfüllt werden. In welcher Weise die Er- 
zeugungskosten der Milch sich durch die Verwirklichung hygienischer 
Maßnahmen steigern, ergibt sich aus den buchmäßig feststehenden 
Mehrausgaben, die einem angesehenen Landwirt aus der Umgebung 
Oölns dadurch erwachsen sind, daß er als Lieferant der Cölner 
Säuglingsmilchanstalt bestimmte Vertragsbedingungen zu erfüllen 
hatte. Es handelt sich um einen Stall von 30 Kühen. Infolge der 
Mehrarbeit für das Reinigen des Viehes und des Stalles mußten die 
Löhne der beiden Schweizer von monatlich 120 {auf 150 M. erhöht 
werden. Die besondere Reinhaltung des Stalles macht eine weitere 
monatliche Mehrausgabe von 27 M. (Stundenlohn für Arbeitsfrauen) 
nötig. Die Aufwendungen für die Anzüge der Schweizer und für 
Handtücher sowie Seife zum Reinigen der Hände betragen monat- 
lieh pro Kopf 6,50 M. Der Stall wird jetzt alle zwei Monate gekälkt 
(früher zweimal jährlich), was jedesmal 28 M. kostet. Die Tief- 
kühlanlage verursacht einen Aufwand von 2100 M. Die durch die 
Tiefkühlung vermehrte Arbeit beträgt 6 bis 9 Stunden täglich. bei 
einem Arbeitslöhne von 18 Pf. die Stunde. Der Eisverbrauch für 
die Tiefkühlung und die sich daran anschließende Aufbewahrung 
bis zum Transporte kostet 0,8 bis 1 Pf. pro Liter. Nicht gering 
sind ferner die Aufwendungen für die Gewinnung einer gesundheit- 
lieh einwandfreien Milch. Bei Anwendung des Ostertagschen 
Systems, bei dem nur diejenigen Tiere ausgemerzt werden, die an 
Eutertuberkulose erkrankt sind oder deren Allgemeinbefinden durch 
die Tuberkulose sichtbar herabgesetzt ist, belaufen sich die jähr- 
liehen Kosten auf etwa 440 M. Ganz im Einklange hiermit stehen 
die Erfahrungen, die man in den Milchländern Dänemark und 
Schweden gemacht hat. Die bekannte Milchversorgungsgesellschaft 
in Kopenhagen hat von vornherein freiwillig dem Landwirt einen 
höheren Preis gezahlt, eben weil sie im hygienischen Interesse große 
Leistungen beanspruchte. Den Befürwortern einer reichsgesetzlichen 
Regelung muß übrigens entgegengehalten werden, daß gerade diese 
auf dem Gebiete der Milchwirtschaft so hochstehenden Länder ihre 
großen Fortschritte "ohne einheitliches Landesgesetz erreicht haben. 
Für den Inhalt der im Verwaltungswege zu erlassenden Verord- 
nungen, die möglichst große Gebiete umfassen sollen - Provinzen, 
Regierungsbezirke - kann der neue preußische Entwurf für die 
Regelung des Milchbetriebes im allgemeinen als Vorbild dienen. 
Den Kernpunkt muß aber die tierärztliche Überwachung der ge- 
gebenen Vorschriften bilden, die im preußischen Entwurfe nur für 
die Gewinnung von Vorzugsmilch vorgeschrieben ist. Neben den 
Verwaltungsvorschriften für größere Bezirke können in den Städten 
besondere Polizeiverordnungen nicht entbehrt werden, die haupt- 
sächlich den Vertrieb regeln und dabei in erhöhtem Maße der Rein- 
lichkeit im Milchgeschäfte zur Geltung verhelfen müssen. Die be- 
hördlichen Maßnahmen werden aber nur dann Erfolg haben, wenn sie 
von dem Verständnis aller beteiligten Kreise getragen werden. Aus 
diesem Grunde muß man vor allem für die Aufklärung über den 
Wert einer hygienisch einwandfreien Milch sorgen. Unter den 
Produzenten sind vor allem die kleineren Landwirte belehrungs- 
bedürftig. Auch das konsumierende Publikum hat nur ein geringes 
Verständnis für den Wert einer hygienischen Milch. In den 
Arbeiterkreisen könnte hierfür durch die Darbietung einer guten 
Milch in den großen industriellen Betrieben viel getan werden. 
Auch die Aufstellung von Milchhäuschen ist ein wirksames Mittel. 
Besonders erfolgversprechend wäre die allgemeine Belehrung der 
Frauenwelt. Die bessere hauswirtschaftliche Ausbildung der Mädchen 
durch Einführung eines Pflichtfortbildungsschuljahrs verdient unter 
diesem Gesichtspunkt ernste Beachtung. Einen unmittelbaren und 
deshalb um so wirksameren Erfolg auf die Milchversorgung können 
die Gemeinden schon jetzt ausüben, wenn sie die für ihre An- 
st.alten (Kranken-, Waisenhäuser) benötigte Milch nicht schlecht- 
hin an den Mindestfordernden vergeben, sondern unter Gewährung 
eines angemessenen Preises die Beobachtung bestimmter hygieni- 
scher Maßregeln sich vertraglich zusichern lassen. So ist man 
in Cöln vorgegangen auf Grund der Erfahrungen, die man bei der 
Errichtung der Säuglingsmilchanstalt gemacht hat. Gerade hier- 
bei hat sich ergeben, daß die fortgesetzte tierärztliche Kontrolle 
eine unbedingte Notwendigkeit ist. Die Landwirte selbst lassen 
diese Aufsicht gern über sich ergehen, wohl aus dem Grunde, weil 
sie ihnen gegenüber dem Personale den Rücken stärkt. Es soll 
nicht leicht sein, bei den Schweizern und sonstigen Arbeitsleuten 
die Beobachtung der nötigen Reinlichkeitsmaßregeln durchzusetzen. 
Wenn sich alle Behörden diesem Vorgehen a.nschlössen, wäre für 
die Milchverbesserung schon viel erreicht. Berechtigt erscheint das 
Verlangen, daß seitens der Eisenbahnverwaltung für den kühlen 
Transport der Milch wie auch für die kühle Aufbewahrung derselben 
auf den Stationen die nötigen Vorkehrungen getroffen werden. 
Die Anlegung von eigenen Musterställen liegt außerhalb des 
Rahmens kommunaler Aufgaben. Kuhhaltungen von größerem Um- 
fange gehören überhaupt nicht in die Stadt. Auch die von manchen 
Seiten in Vorschlag gebrachte Einrichtung von Milchhöfen unter 
städtischer Verwaltung ist eine Maßregel, der nur eine beschränkte 
Bedeutung zuerkannt werden kann. Es ist vor allem nicht richtig 
die Milchversorgung in gleicher Weise zu behandeln wie die Fleisch- 
Versorgung und unter Hinweis auf die öffentlichen Schlachthäusei 
ähnliche Einrichtungen für die Milch zu fordern. Die hygienischer 
Nachteile, die mit den Schlachthofbetrieben verbunden sind, lieger 
bei der Behandlung der Milch (Kühlung, Reinigung) nicht annähernt 
vor. Auch würde die für die Fleischversorgung notwendige Zen- 
tralisation für die Milch, die möglichst schnell in die Hand des 
Konsumenten gelangen soll, eine sehr unerwünschte Verzögerung 
der Zustellung mit sich bringen. Wenn die Kühlung der Milch an 
Ursprungsorte vorgenommen und für den kühlen Transport gesorg 
wird, so dürfte eine weitere Behandlungim Milchhof entbehrlich sein 
Die Erfahrung hat gelehrt, daß für die Säuglingsernährung dir 
Lieferung einer guten Kuhmilch noch nicht ausreicht, um der über 
großen Sterblichkeit zu begegnen. Die Frauen wissen meist nich 
richtig mit der Milch umzugehen, sie verwenden schmutzige Gefäße 
und unreines Wasser und führen so die Verderbnis der Milch her 
bei. Endlich aber schaden sie dem zarten kindlichen Organismus 
durch Darreichung zu großer Mengen. Bekanntlich hat man es i1 
Frankreich zuerst unternommen, durch Abgabe einer billigen, i1 
trinkfertigen Einzelportionen hergestellten Säuglingsmilch abzuhelfen 
und man ist diesem französischen Beispiel in Amerika, Dänemarl 
und England bald gefolgt. Während in den erstgenannten Länderi 
sich die private Wohltätigkeit zur Trägerin dieser Bestrebungei 
machte, wurde in England die Errichtung der Milchküchen von vorn 
herein als eine kommunale Aufgabe aufgefaßt. Diesem Standpunkt: 
gehört die Zukunft. Der Preis, der für tadellose, in trinkfertigei 
Einzelportionen hergestellte Säuglingsmilch gefordert wird, ist s: 
hoch, daß er für die weniger bemittelte Bevölkerung unerschwinglicl 
ist. Ohne soziale Fürsorge der Gemeinden ist deshalb eine Besserung 
, nicht zu erreichen. Durch Verbindung mit einem anderen wirt 
 schaftlichen Betriebe können die Gemeinden die Kosten so erheblicl 
herabmindern, daß die Abgabe zu einem mäßigen, den Preis eine 
gewöhnlichen Kuhmilch wenig übersteigenden Preise den Gemeinde 
etat nicht übermäßig belasten wird. Die im vorigen Jahre errichtet
	        
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