Full text: Gudensberg

Nur schwer vermag man sich heute noch vorzustellen, wie der Arbeiter in der damali- 
gen Dreiklassengesellschaft schikaniert wurde. Nach getaner Arbeit pflegten die 
Arbeiter am 1. Mai (zur damaligen Zeit noch kein gesetzlicher Feiertag) zu feiern, 
was den Bürgerlichen sehr mißfiel. Fortan lieh man den Arbeitern in der Regel am 
1. Mai Pferde und Gerätschaften zum Bestellen ihrer Äcker! 
Auch trieben einige Gudensberger Großbauern die Pachtzinsen in Dimensionen, in 
denen die Arbeiter nicht mehr in der Lage waren, mitzubieten. Mit diesem Verhalten 
verfolgten die Großbauern ein bestimmtes Ziel: Im Jahre 1900 klagten sie über Man- 
gel an Arbeitskräften. Wenn nun die Arbeiter finanziell sich nicht in der Lage sahen, 
Land zu pachten, waren sie weiterhin gezwungen, sich den Großbauern als billige 
Arbeitskräfte zur Verfügung zu stellen. 
Arbeiterjungen, die in einem Lehrverhätnis standen, wurden schlechter behandelt als 
Kinder 'besserer, Herkunft: Sie mußten Ställe misten, Jauche fahren, kurzum die 
unangenehmen Dreckarbeiten verrichten. Den Lohn bekamen sie je nach Laune der 
Arbeitgeber ausbezahlt. Gesetzwidrige Arbeitsordnungen kamen nicht selten vor. 
aFirmeninhaber und Aufseher sind alleinige Herrschermv, so hieß es in der Arbeits- 
ordnung von 1901 der Firma Striebig 8c Nagel. Zudem bezahlte die Ortskrankenkasse 
nach einem Unfall keine Zuwendungen. Die Arbeiterfrau mußte dann oftmals mit 
ihren Kindern allein zurechtkommen. 
An den Arbeiter- und Tagelöhnerkindern wurde das Züchtigungsrecht in der Schule 
vermehrt ausgeübt. Sie bekamen auch öfter von den anderen Kindern zu hören: 
'Geh' weg von mir, du hast Dreck an dir, mit solchen Kindern spiel, ich nichf. 
Die Arbeiter, besonders auf dem Land, akzeptierten still ihr Dasein als Menschen 
dritter Klasse. Nur zögernd machte man sich bewußt, daß man eine bessere Behand- 
lung seitens der Obrigkeit verdiente und sich vor allem dafür einsetzen mußte. Ende 
des 19. Jahrhunderts fanden erste Versammlungen über die Lebensverhältnisse der 
Arbeiter statt. Die 'Linken', insbesondere Hermann Bauer, wurden auch in Gudens- 
berg aktiv. 
Im Sommer 1898 bezogen neun Bürger das Kasseler "Volksblatf, ein Jahr später waren 
es immerhin 100 aus der Werktätigen Gudensberger Bevölkerung, die dieses Organ 
lasen. Auch der "Wegweisef erfreute sich bald regen Zuwachses. Gendarm Mergard 
versuchte die Aufklärungsarbeit zu unterbinden und paßte auf wie ein Luchs. Bauer 
soll sogar an einem Sonntag die beiden 'Blätter' ausgetragen haben, der Gendarm 
erstattete Strafanzeige. Da die Sachlage nicht geklärt werden konnte, wurde die 
Angelegenheit zunächst vertagt. Die Zeugen, die bei der nächsten Verhandlung gela- 
den waren, wußten nichts gegen Bauer vorzubringen, so daß es bei der belastenden 
Aussage Mergards blieb, Bauer habe am besagten Sonntag binnen 20 Minuten vier 
Haushalte besucht. Wegen "Verbreitung von Schriften ohne polizeiliche Erlaubnis, 
befand das Schöffengericht im Jahre 1900 Hermann Bauer schließlich für schuldig.
	        

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.