Full text: Gesamthochschule Kassel 1971 - 1981

ihr Bewußtsein und ihr praktisches Handeln gemacht; die angestrebte 
kritische Handlungsfähigkeit müßte notwendigerweise verfehlt werden. 
Dies bedeutet, daß das Kasseler Kernstudium nur als eine Rahmenkon- 
zeption für eine immer neu einzuholende, kritisch zu reflektierende und 
konkret erst auszuarbeitende Studien- und Berufspraxis verstanden wer- 
den darf. Der Freiraum für die Eigenaktivität der Betroffenen sowie 
die ständige Überprüfung und inhaltliche Revision des Konzepts sind für 
das Kernstud ium konstitutiv. 
Mit der Entwicklung der Kernstudienordnung bricht die bis dahin latent 
gebliebene hochschulinterne Kontroverse über die wissenschaftliche 
Orientierung der Kasseler Stufenlehrerausbildung offen aus. Eine Reihe 
der in den Fächern angesiedelten Fachdidaktiken fühlen sich, wie ihre 
Vertreter in einem Brief an die Gründungspräsidentin ausdrücken 32, 
durch den Entwurf "majorisiert", "bevormundet" und vom "Herrschafts- 
anspruch bestimmter Wissenschaften" bedroht. Im einzelnen wird an 
der Kernstudienordnung kritisiert, daß sie einseitig durch ideologische 
Positionen bestimmt sei, das Lehrerstudium auf die gese1lschaftpo1iti- 
sche Schulung von Sozialdiagnostikern und -the rapeuten ve rkürze und in 
ihrem "kritisch-polemisierenden Zugriff auf Gesellschaft und Umwelt" 
anthropologische Momente verfehle, wie etwa die Personalität und Spon- 
taneität von Heranwachsenden, die konstitutionellen und bio-physischen 
Grundlagen im Entw icklungsprozeß und "Kategorien wie Freude, Humor, 
Zustimmung, Gelassenheit". Insgesamt wurde die Sorge artikuliert, 
daß der Kernstudienentwurf eine Verbindung "mit dem fachwissenschaft- 
lichen und fachdidaktischen Studium sowie der berufspraktischen Phase 
unmöglich macht". 
In ihrer Antwort heben die Kernstudien-Verteter zunächst hervor 33, 
daß die Vorwürfe einseitiger Ideologisierung und der Vernachlässigung 
anthropologischer Aspekte auffällig der CDU-Kritik an den Rahmen- 
richtlinien Gesellschaftslehre glichen. Dadurch entstehe die Gefahr, daß 
bei Dritten gegen das erziehungswissenschaftliche Hochschulstudium 
der Lehrer von vornherein vorurteilshafte Affekte mobilisiert wür- 
den. Auf die Einwände selbst wurde entgegnet, daß die Kritiker übersä- 
hen, daß das zentrale Anliegen der Kernstudienordnung gerade darin be- 
stehe, künftige Lehrer instandzusetzen, Heranwachsenden dabei zu hel- 
fen, mit ideologischen Denkinhalten kritisch umzugehen statt ihnen wehr- 
los ausgeliefert zu sein. Deshalb sei die "psychologische und soziologi- 
sche Kritik ideologischer Haltungen" notwendig ein zentraler Teil der 
Lehrerausbildung. Ein gesellschaftskritischer Standpunkt könne sehr 
wohl wissenschaftlich begründet sein, während eine sozialkritisch ab- 
stinente oder harmonistische Haltung nur scheinbar "ideologiefrei" sei. 
Die von den Kritikern genannten Momente einer individuell befriedigen- 
den Lebenspraxis würden von den Kernstudienvertretern unbedingt be- 
jaht. Es müsse jedoch gesehen werden, daß die Entwicklung von Lebens- 
freude und Spontaneität nicht durch das Aufstellen von Sollforde rungen 
an Heranwachsende erreicht werden könne. Anzustreben sei vielmehr -
	        
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