Umhüllung aller bisher entstandenen Teile zu erzielen, theoretisch erörtert wurde, lehrt ein Stadtplan, der eine
völlig kreisförmige, mit starkem Bering ausgestattete Vergrößerung vorsieht} Ganz den weitsichtigen Anschau-
ungen des Landgrafen Karl entspricht es, daß die Neustadt, die er für die Hugenotten gründete, als städtebaulich
völlig selbständiges Gebilde entstand. Die räumliche Loslösung der neuen Häuserblocks von den vorhandenen,
noch nach mittelalterlichen Grundsätzen angelegten Stadtteilen ermöglichte die Entfaltung eines Planes nach
den zeitgemäßen Regeln des französischen Barock. Der ursprüngliche Gedanke, als Platz der Siedelung den
südöstlich von Cassel gelegenen Forst zu wählen, wurde aufgegeben, vermutlich weil das im Überschwemmungs-
gebiet der Fulda liegende Vorgelände eine unmittelbare Verbindung der beiden Städte hinderte und im Falle
einer Belagerung eine zuverlässige Deckung durch die Festung nicht gewährleistete." Auch mochte der Forst
als Weideplatz schwer entbehrlich sein. Statt dessen wählte der Landgraf als Stelle der Siedelung das südwestlich
Cassels gelegene Gelände des Weinberges, wo die Häuser, außerhalb von Wall und Graben angeordnet, zwar
frei lagen, aber noch unter dem unmittelbaren Schutz der bedeutenden Festungswerke der alten Stadt standen,
mit der in Kriegs- wie Friedenszeiten ein reger Verkehr unschwer möglich war. Diese Sicherung durch die
Bastionen der Altstadt erwies sich um so notwendiger, als die für die neue Stadt entworfenen starken Befesti-
gungen in Wirklichkeit garnicht zur Ausführung kamen. Das gewählte Gelände mochte dem Landgrafen auch
deshalb vorteilhafter erscheinen, weil ein großer Teil desselben vom fürstlichen Garten eingenommen wurde,
während der andere Teil aus Gärten, untermischt mit Ländereien, bestand, die keinen hohen Wert aufwiesen
und ohne große Kosten angekauft werden konnten. Nach der erhöhten Lage des Baugeländes erhielt die
jüngste Neustadt, die „französische Neustadt" oder „ville neuve", den Namen der Oberneustadt, im Gegensatz
zu der jenseits des Flusses befindlichen älteren Neustadt, die, um rund 30 m tiefer liegend, nunmehr die
Bezeichnung Unterneustadt annahm oder auch als „ville allemande" erscheint." Entwurf und Beginn der Aus-
führung leitete Paul du Ry, selbst Hugenotte und Ansiedler des neuen Viertels. Fortgesetzt wurden die Arbeiten
von des Künstlers Sohn Charles und zu Ende geführt vom Enkel Simon Louis, dem bedeutendsten Mitgliede
der Familie.
Um ein rasches Emporblühen der Oberneustadt zu befördern, räumte der Landgraf den Baulustigen
bedeutende Vorrechte und Erleichterungen ein. Nachdem 1688 mit dem Bau des ersten Hauses begonnen,
im folgenden Jahr aber nicht ein Fortgang zu verzeichnen war, wie ihn der Fürst wünschte, faßte eine
Bekanntmachung vom 17. Februar 1690 die Vergünstigungen für die Baulustigen zusammen. AlleBaustoffe
an Holz, Mauer- und Backsteinen, Kalk und Sand sollten unentgeltlich geliefert und angefahren werden. Wer
einen Hausplatz bebaute, sollte zehnjährige, wer einen doppelten oder zwei Plätze bebaute, zwanzigjährige
Freiheit genießen. Eine ewige Freiheit wurde denen versprochen, welche die Materialien auf eigene Kosten
anschafften und zur Erbauung ihrer Häuser 8000 bis 10000 Taler anwendeten. Bei 6000 Talern hatte der
Baulustige eine sechzigjährige, bei 1000 Talern eine vierzigjährige Befreiung von Abgaben zu erwarten.
Niemand sollte zur Wahl eines Bauplatzes genötigt werden; diejenigen aber, die sich zuerst meldeten, hatten
den Vorteil, daß ihnen der Bauplatz auf herrschaftlichem Grund und Boden umsonst angewiesen wurde, nur
daß sie jährlich von jeder Rute etwa zwei Dreier zu entrichten hatten. Die Bauplätze in den zunächst gelegenen
bürgerlichen Gärten wurden gegen einen billigen Preis ausgeteilt. Nach Paul du Ry's Plan waren die Baugevierte
zwischen den Straßen in Baustellen von 33 Fuß Breite und 140 Fuß Tiefe eingeteilt. Eine besondere
Bestimmung gestattete, daß die Eckhäuser und die Bauten in den Neben- oder Querstraßen keine Gärten,
sondern nur ein Höfchen von 15 bis 20 Fuß erhielten- Wer ein Haus in der neuen Stadt errichten wollte,
erhielt für jede Baustelle ein „Baudouceur" von tausend Talern, das zur Hälfte beim Beginn des Baues, zur
' Handzeichnung, Landesbibliothek Cassel. Holtmeyer, Alt Cassel, S. LXXVl u. Text-Abb. 45.
' Piderit, Cassel, S. 222: „Landgraf Carl ließ den Plan, auf dem Forste eine Fabrikstadt anzulegen, nie ganz aus den Augen,
und es befand sich im ehemaligen Modellhause das Modell zu einer in der Mitte des Forstes anzulegenden Stadt, welche schneckenförmig
erbaut und durch einen Kanal mit dem Schlosse in Verbindung gesetzt werden sollte." Das Modell soll von Wachter angefertigt sein.
Gerland, Du Ry, S. 5. Wentzell, in Casseler Allgem. Zeitung 1910, N0. B49.
' Stadtplan 1761. Stadtplan 1762.
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