ZUM GELEIT.
Cassel hat eine ebenso ereignisreiche wie reizvolle
Vergangenheit. Es ringt schwer in der durch den
Krieg und die Kriegsfolgen gekennzeichneten Gegen-
wart, kann aber, wenn das eine deutsche Stadt über-
haupt darf, hoffnungsfroh in eine bessere Zukunft
blicken. Der Leser möge einen Blick in Heidelbachs
kunstgeschichtliche Betrachtungen werfen und er wird
das alte Cassel sehen: kunstliebende Fürsten, die wirk-
lich gute Berater hatten, bauten und bauten, aber sie
verstanden es auch, die architektonischen Schöpfungen
mit der entzückenden Landschaft in harmonischen Ein-
klang zu bringen. Drei Worte genügen: Karlsaue,
Wilhelmshöhe, Wilhelmsthal.
Kunst und Wissenschaft fanden hier sorgsam be-
hütete Pflegestätten. Das Theater war weit über die
hessischen Grenzpfähle hinaus berühmt. Die Casseler
Gemäldegalerie mit den Rembrandtschätzen gehört zu
den köstlichsten Sammlungen der Welt. Zu uns
kommt, wer das Manuskript des Hildebrandliedes
sehen, wer Wilhelm und Jacob Grimm an der ergie-
bigsten Quelle studieren will.
Vöpels Schilderungen der Wohnungsverhältnisse
führen uns mitten in das Wohnungselend hinein, zeigen
aber auch, wie energisch und zielklar in Cassel der
Wohnungsnot zu Leibe gegangen wird. Die auf diesem
Gebiete, dem zurzeit wichtigsten für alle Stadtverwal-
tungen, entwickelte Energie soll und muß jeden Zweig
der Verwaltung unserer schönen Stadt beseelen, dann
aber ist die bessere und schönere Zukunft auch ge-
sichert, denn alle sonstigen Vorbedingungen sind ge-
geben.
Handel und Wandel blühen selbst in der jetzigen
schweren Zeit. Das Handwerk entwickelt sich mehr
und mehr zum Kunsthandwerk. Die Industrie aber
ist auf der Höhe in allen ihren Sondergebieten - von
den komplizierten optischen, chirurgischen und phar-
mazeutischen Produkten, die in einer Hand verborgen
werden können, bis zu den Riesenlokomotiven, die kost-
bare Waren durch aller Herren Länder schleppen.
Doch ich will nicht vorweg auch nur andeuten,
was jeder einzelne Mitarbeiter an dieser Schrift über
Cassel zu berichten weiß. Aber feststellen will ich, daß
nur noch wenige größere Städte Deutschlands sich
rühmen dürfen, soviel des Sehenswerten auf städtebau-
lichem Gebiete zeigen zu können wie Cassel. In der
Altstadt ist n i c h t alles schön, in den neuen Stadt-
teilen n i c h t a l l e s nachahmenswert, aber lehrreich
und interessant sind sowohl die Ketten-, Fliegen-,
Essig- und Pomeranzengasse, wie das Aschrottviertel,
die Terrasse und der Weinberg. Wo aber ist die zweite
deutsche Stadt, die eine Straße wie unsere „Schöne
Aussicht" aufweisen könnte?
Verzeihe, Leser, daß ich -- für dich - anscheinend
so überheblich von Cassel spreche. Aber es handelt sich,
um meine Vaterstadt, die ich liebe und die du sehen
sollst, um sie ebenfalls lieben zu lernen. Komm und
schaue von Wilhelmshöhe über die Stadt nach dem
Meißner, oder gehe mit mir zur Söhre und blicke über
die Stadt zum Herkules! Gleichviel, wohin du schauen
magst, die Stadt wird dir gefallen, wird dich freudig
stimmen. Die deutsche Landschaft aber, in die sie ge-
bettet ist, wird dich begeistern. Komm!
C a ss e l , im Sommer 1922.
Ph. Scheidemann