Full text: Cassel

der Casseler Bürgerschaft gelernt, 
wann man den Frack, Smoking oder 
Cut zu tragen hat, und die Fälle, in 
denen bei größeren Abendfestlichkeiten 
biedere Bürger im Bratenrock mit wei- 
ßer Krawatte oder gar im hellen Stra- 
ßenanzug, Frauen und junge Mädchen 
im schlichten Rock und Bluse antraten, 
können nur noch als sporadische Er- 
scheinungen gebucht werden. Man mag 
zu solchen Äußerlichkeiten der Klei- 
dung stehen wie man will, für den 
großstädtisch geschulten Beobachter 
gelten sie nun einmal als Maßstab der 
gesellschaftlichen Gewöhnung, und so- 
lange hier keine allgemeine Umwer- 
tung aller Werte eintritt, wird sich 
dieses Urteis schwerlich ändern. 
Zwei Umstände haben neben der 
Umschichtung der Bevölkerung zu 
diesem gesellschaftlichen Entwick- 
lungsprozeß hauptsächlich beigetragen. Der Bau des 
neuen Staatstheaters und der der Stadt- 
halle. Nachdem das alte kurfürstliche, später könig- 
lich preußische Hoftheater dem Prunkbau am Eingang 
der Carlsaue Platz gemacht hatte, war es aus mit der 
Gemütlichkeit der ehemaligen „Nachtjackenunterloge", 
also benamst, weil man im Schutze ihrer Dunkelheit 
getrost im besagten intimen Gewand den Gang der 
Vorstellung erfolgen konnte. Im übrigen wird aber 
die anheimelnde Vornehmheit des alten Theaters, die 
Qualität seiner hervorragenden Kräfte und der Wert 
der Aufführungen stets unvergessen bleiben. Die 
Lichtstrahlen des neuen in Ton und Farbe gehaltenen 
Raumes, die elegante Wandelhalle, in der man sich in 
den Pausen traf, verlangten nach großer Toilette und 
Gesellschaftsanzug. Früher wäre ein Herr im Frack 
oder Smoking, eine dekolletierte Dame bei einer 
Theatervorstellung angestarrt und angestaunt worden, 
heute sehen auch breitere Schichten des Casseler Publi- 
kums ein, daß ein festlich beleuchtetes Haus auch ein 
festliches Gewand verlangt und daß man im Theater, 
das uns Kunst im edelsten Sinne des Wortes ver- 
mitteln will oder doch sollte, auch den Alltagsmenschen 
in der Kleidung möglichst zu Hause läßt. Auch in 
Cassels zweiten künstlerisch ernstzunehmenden 
Musentempel, in dem kleinen Kammerspielhaus, zeigt 
sich bei Erstaufführungen ein ähnliches gesellschaft- 
liches Bild. 
Der Riesenbau der S t a d t h a l l e , in letzter 
Stunde vor Einbruch der großen Weltkatastrophe noch 
fertig geworden, hat schon manches gesellschaftliche 
Ereignis von Rang und Bedeutung gesehen. Von Jahr 
zu Jahr steigt die Zahl der Kongresse und Ausstellun- 
 
Bild oben rechts: 
Staatliche Kunstakademie. 
 
gen, die in diesen imposanten Räumen abgehalten 
werden. Neben dem großen Festsaal, der mit seinen 
2600 Sitzplätzen und hunderten von Stehplätzen, der 
wundervollen Orgel und geräumigen Bühne zu den 
größten Saalbauten Deutschlands zählt - er kann bei 
Bedarf noch mit dem dahinterliegenden Hochzeitssaal 
zu einem gewaltigen Raum vereinigt werden --, ist 
noch der prachtvolle, ganz in blau und gold gehaltene 
Theatersaal zu erwähnen. In den letzten Wintern 
fanden sich hier Tausende zu froher Geselligkeit zu- 
sammen; es vergeht kaum ein Sonnabend oder Sonn- 
tag, an dem nicht beide Säle belegt sind. Zwei Ver- 
anstaltungen größten Stils, wie das Wohltätigkeitsfest 
zugunsten der oberschlesischen Grenzspende im Jahre 
1920 und ein 1921 nach dem Muster der Berliner 
Bühnen- und Pressefeste mit Modenschau und Auf- 
führungen verbundenes Fest der Genossenschaft 
deutscher Bühnenangehörigen und der Ortsgruppe 
des Reichsverbandes der Deutschen Presse (Schminke 
und Feder) waren gesellschaftliche Ereignisse ersten 
Ranges, von denen man noch lange sprach. Auch die 
großzügigen Modeschauveranstaltungen erster Casseler 
Firmen haben neben der Leistungsfähigkeit der be- 
treffenden Häuser gezeigt, daß der Geschmack und das 
Interesse an den Schöpfungen der Mode hier in stetigem 
Wachsen begriffen ist. Bei Tee und Kuchen saß und 
sah Cassels Damenwelt, man kaufte sogar hier und 
da, wenn man auch gegenüber manchen von schlanken 
Mannequins gezeigten allzusehr in Farbe und Stil be- 
tonten Wundern der zeitgenössischen Konfektion noch 
eine gewisse Vorsicht und Reserve für angebracht 
hielt. In glücklicheren Zeiten gab es in Cassel auch 
so etwas ähnliches wie einen K a r n e v a l , bescheiden 
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