Full text: Hessenland (49.1938)

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schauung des Künstlers sich prüde, neugierig oder dumm 
gebärdete, war in einer kleinen Residenzstadt unvermeid 
bar. Man wußte Zu viel und glaubte doch Zu wenig noch 
Zu wissen. So wuchs notwendig, hier in Kassel wie in 
allen anderen Städten, mit dem Großen der außer 
ordentlichen Leistungen auf der Bühne und dem beweg 
ten Widerhall in einer theaterfreudigen Bevölkerung 
auch das Laster. 
Sehdelmann schreibt von seiner Kasseler Zeit: „In 
Kassel ging es dem Schauspieler Sehdelmann aus 
nehmend gut, der Mensch gefiel sich gleich von Anfang 
nicht." Der Schauspieler Sehdelmann errang Jahr um 
Jahr einen wachsenden Erfolg. 1824 im „öffentlichen Ge 
heimnis" nach Calderon ist man ihm „vielen Beifall schul 
dig". Im Februar dieses Jahres bringt die Zeitung ein 
fünf Strophen langes Huldigungsgedicht, das der Redak 
teur über Sehdelmann einleitet, „der mit soviel echten« 
Ernst und gründlichen Fleiß seine Aufgaben zu durch 
dringen und in der Darstellung überall Zur Kunst und 
Zur Wahrheit Zu gelangen sucht." Jenes Gedicht be 
ginnt: 
Du hast durchschaut des HerZens tiefste Falten, 
Des Lebens bunte wechselnde Gestalten. 
In deinem Spiel stellst Du sie all uns dar, 
Lebendig aufgefaßt und treu und wahr. 
Und weiter an anderer Stelle: In Shhlock zeigst du uns 
ein Ungeheuer. 
In Kassel hat Sehdelmann seine Größe erreicht und 
den bestimmenden Stil seiner Darstellung gewonnen. Sein 
Ausdruck muß die nüchterne Schürfe, die Gegensätzlich 
keit und den harten Kontrast erhalten haben. Die kalte 
Leidenschaftlichkeit seiner Deutung, die mit äußerster Ge 
wissenhaftigkeit aus der Dichtung die kennzeichnenden 
Merkmale entnahm, diese steigerte, übertrieb und zum 
Furchtbaren führte, brachte es dahin, daß er in den Auf 
führungen oft den gesamten Verlauf auf seine Rolle zu 
spitzte. Die späte Romantik findet in ihm den gegebenen 
Schauspieler. Er spielt aus dem Eifer und der An 
strengung, er ertrotzt die Leistung, und mit seiner ganzen 
genialen Berechnung der Wirksamkeit seiner Rolle be 
stimmt er den Grad seiner Leidenschaft. Er spielt mit 
den Reizen und Einfüllen, er bucht Gefühle und Emp 
findungen, wenn sie einer besonderen Steigerung hul 
digen, er drängt Zum Außergewöhnlichen, um dies zum 
Außerordentlichen Zu zwingen. Sein Kampf um die 
Kunst und um die Wahrheit bedeutet die Bloßstellung 
und gleichzeitig die Veranschaulichung des spütromanti- 
schen Menschens. Ohne feste, klar gefügte Ordnung, 
überladen mit dem Geistigen, gelöst von der wohltuen 
den Fülle und Gerechtigkeit des Lebens, nur mit dem Ge 
bilde aus einer nicht mehr glaubensfühigen irdischen 
Herkunft, die mit eigenen Waffen in romantischer Ironie 
das eigene System durchlöchern möchte und will, hält 
sich Sehdelmann allein an die Rechnung seines Geistes, 
der das Spiel beherrscht und mit Sicherheit seiner starken 
Phantasie gebietet. Und wenn Immermann äußert: 
„daß Sehdelmann nicht immer bringe, was der Dichter 
gewollt" H, so muß sich diese Entwicklung in seiner Kas 
seler Zeit vollzogen haben. Hier hat er die Skala seiner 
Mittel zum ersten Male gewonnen und mit großer Zucht 
8) Eduard Devrient a. a. O. 
jeden einzelnen Zug seiner Darstellungskunst ausgefeilt. 
Er sinnt aus eine größere Wirksamkeit der einzelnen 
Rolle, auf eine Steigerung Zum Ungeheuerlichen, er über 
treibt, um ein von ihm erdachtes geistiges Gebilde, eine 
scharfe, fast gewaltsame Deutung der Dichtung mit seinen 
nun erwachten, außerordentlichen Fähigkeiten veranschau 
lichen zu können. Er beginnt, die Rollen Zu sprengen. 
Damit erreicht er die größten Wirkungen. Aus dem 
Geist der Dichtung holt er die Anhaltspunkte seiner 
Steigerung und Vollendung. 
Sehdelmann kämpft aufs ärgste um den Inhalt des 
Stückes und um die Gesamtheit. Er will vom Ganzen 
seine Rolle beleben. Er schreibt: „Wenn du ein Stück 
liest, so sieh doch auf den Plan des Verfassers, erkenne 
die gegenseitigen Stellungen, die er uns vorführt, und 
du wirst dir für die Frage: Was mach' ich mit meiner 
Rolle? bald die Antwort sagen können. Rach ungefährem 
Eindruck, den die oberflächliche Lektüre eines Stückes, 
einer Rolle auf uns macht, diese letztere spielen, kann 
sehr auf Irrwege führen." 9 ) Er ist überzeugt dem Gan 
zen zu dienen, und seine hellen und wachen, angestrengten 
Sinne überprüfen jede Möglichkeit der Sprache und 
Geste. Er glaubt für eine Einheit des Spieles kämpfen 
zu müssen, die kaum noch besteht. Er ist der stärkste, der 
sie durchbricht. Hier ruht das romantische Schicksal, das 
in der Wahrheit ohne Glauben die menschliche Größe 
und Gesamtheit beweisen will. Der fanatische Drang 
zur wahren Kunst hat das rechte Verhältnis gestört, und 
die Gesamtheit ist nicht mehr im Menschen, sie kann nicht 
mehr gefunden, gespielt und veranschaulicht werden. 
Sehdelmann drängt auf die Schärfe der Charakterisie 
rung, und es wird das ironische Werk der spätromanti 
schen Bildung. Das realistische, historisierende Spiel ist 
das zeitliche Ergebnis. 
Von Kassel aus verbreitet sich sein Ruhm. Mehrere 
Gastspiele an anderen deutschen Theatern brachten gro 
ßen Erfolg. Gute Kritiken begleiten ihn. Mancher be 
fähigte Beobachter erkennt deutlich seine Begabung. 
So schreibt ein Hamburger Berichterstatter im Jahre 
1826 während des dortigen Gastspieles: „Sehdelmann ist 
noch nicht dahingelangt, die edleren Gestaltungen zu 
lieben. Die ganze Darstellung war mit der größten Be 
stimmtheit nach genauem Maße angelegt und in der 
Ausführung zeigt sich ein Mut, ich möchte fast sagen eine 
Keckheit, die schon einen hohen Grad von innerer Über 
zeugung und eine wahrhaft geniale Rüstung des Geistes 
voraussetzt". Man empfindet sehr wohl die Schärfe sei 
nes Spieles, kann sich aber seiner genialen Art nicht 
völlig verschließen. Richt weniger treffend urteilt der 
Kasseler Berichterstatter in Seydelmanns letztem Kasse 
ler Jahre, der ein sehr kluger Kops gewesen sein muß. 
Er schreibt über Sehdelmann in dem Schauspiel „Lud 
wig XI. in Peronne" von I. von Auffenberg. 
„Was bei uns aber die Aufführung dieses Stückes 
besonders hervorhebt, das ist Seydelmanns vor 
treffliche Darstellung Ludwigs des Elften- eine Dar 
stellung, worin sein ausgezeichnetes Talent, historische 
Charaktere zu ergreifen und in einzelnen, feinen und 
durchdachten Zügen zu einem kräftigen und mit Leben 
ansprechenden Bildnis auszuarbeiten, sich recht dartut. 
Vom ersten Auftreten an bis zum letzten ist hier die stete 
9) H. Th. Nötscher a. a. O.
	        
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