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schauung des Künstlers sich prüde, neugierig oder dumm
gebärdete, war in einer kleinen Residenzstadt unvermeid
bar. Man wußte Zu viel und glaubte doch Zu wenig noch
Zu wissen. So wuchs notwendig, hier in Kassel wie in
allen anderen Städten, mit dem Großen der außer
ordentlichen Leistungen auf der Bühne und dem beweg
ten Widerhall in einer theaterfreudigen Bevölkerung
auch das Laster.
Sehdelmann schreibt von seiner Kasseler Zeit: „In
Kassel ging es dem Schauspieler Sehdelmann aus
nehmend gut, der Mensch gefiel sich gleich von Anfang
nicht." Der Schauspieler Sehdelmann errang Jahr um
Jahr einen wachsenden Erfolg. 1824 im „öffentlichen Ge
heimnis" nach Calderon ist man ihm „vielen Beifall schul
dig". Im Februar dieses Jahres bringt die Zeitung ein
fünf Strophen langes Huldigungsgedicht, das der Redak
teur über Sehdelmann einleitet, „der mit soviel echten«
Ernst und gründlichen Fleiß seine Aufgaben zu durch
dringen und in der Darstellung überall Zur Kunst und
Zur Wahrheit Zu gelangen sucht." Jenes Gedicht be
ginnt:
Du hast durchschaut des HerZens tiefste Falten,
Des Lebens bunte wechselnde Gestalten.
In deinem Spiel stellst Du sie all uns dar,
Lebendig aufgefaßt und treu und wahr.
Und weiter an anderer Stelle: In Shhlock zeigst du uns
ein Ungeheuer.
In Kassel hat Sehdelmann seine Größe erreicht und
den bestimmenden Stil seiner Darstellung gewonnen. Sein
Ausdruck muß die nüchterne Schürfe, die Gegensätzlich
keit und den harten Kontrast erhalten haben. Die kalte
Leidenschaftlichkeit seiner Deutung, die mit äußerster Ge
wissenhaftigkeit aus der Dichtung die kennzeichnenden
Merkmale entnahm, diese steigerte, übertrieb und zum
Furchtbaren führte, brachte es dahin, daß er in den Auf
führungen oft den gesamten Verlauf auf seine Rolle zu
spitzte. Die späte Romantik findet in ihm den gegebenen
Schauspieler. Er spielt aus dem Eifer und der An
strengung, er ertrotzt die Leistung, und mit seiner ganzen
genialen Berechnung der Wirksamkeit seiner Rolle be
stimmt er den Grad seiner Leidenschaft. Er spielt mit
den Reizen und Einfüllen, er bucht Gefühle und Emp
findungen, wenn sie einer besonderen Steigerung hul
digen, er drängt Zum Außergewöhnlichen, um dies zum
Außerordentlichen Zu zwingen. Sein Kampf um die
Kunst und um die Wahrheit bedeutet die Bloßstellung
und gleichzeitig die Veranschaulichung des spütromanti-
schen Menschens. Ohne feste, klar gefügte Ordnung,
überladen mit dem Geistigen, gelöst von der wohltuen
den Fülle und Gerechtigkeit des Lebens, nur mit dem Ge
bilde aus einer nicht mehr glaubensfühigen irdischen
Herkunft, die mit eigenen Waffen in romantischer Ironie
das eigene System durchlöchern möchte und will, hält
sich Sehdelmann allein an die Rechnung seines Geistes,
der das Spiel beherrscht und mit Sicherheit seiner starken
Phantasie gebietet. Und wenn Immermann äußert:
„daß Sehdelmann nicht immer bringe, was der Dichter
gewollt" H, so muß sich diese Entwicklung in seiner Kas
seler Zeit vollzogen haben. Hier hat er die Skala seiner
Mittel zum ersten Male gewonnen und mit großer Zucht
8) Eduard Devrient a. a. O.
jeden einzelnen Zug seiner Darstellungskunst ausgefeilt.
Er sinnt aus eine größere Wirksamkeit der einzelnen
Rolle, auf eine Steigerung Zum Ungeheuerlichen, er über
treibt, um ein von ihm erdachtes geistiges Gebilde, eine
scharfe, fast gewaltsame Deutung der Dichtung mit seinen
nun erwachten, außerordentlichen Fähigkeiten veranschau
lichen zu können. Er beginnt, die Rollen Zu sprengen.
Damit erreicht er die größten Wirkungen. Aus dem
Geist der Dichtung holt er die Anhaltspunkte seiner
Steigerung und Vollendung.
Sehdelmann kämpft aufs ärgste um den Inhalt des
Stückes und um die Gesamtheit. Er will vom Ganzen
seine Rolle beleben. Er schreibt: „Wenn du ein Stück
liest, so sieh doch auf den Plan des Verfassers, erkenne
die gegenseitigen Stellungen, die er uns vorführt, und
du wirst dir für die Frage: Was mach' ich mit meiner
Rolle? bald die Antwort sagen können. Rach ungefährem
Eindruck, den die oberflächliche Lektüre eines Stückes,
einer Rolle auf uns macht, diese letztere spielen, kann
sehr auf Irrwege führen." 9 ) Er ist überzeugt dem Gan
zen zu dienen, und seine hellen und wachen, angestrengten
Sinne überprüfen jede Möglichkeit der Sprache und
Geste. Er glaubt für eine Einheit des Spieles kämpfen
zu müssen, die kaum noch besteht. Er ist der stärkste, der
sie durchbricht. Hier ruht das romantische Schicksal, das
in der Wahrheit ohne Glauben die menschliche Größe
und Gesamtheit beweisen will. Der fanatische Drang
zur wahren Kunst hat das rechte Verhältnis gestört, und
die Gesamtheit ist nicht mehr im Menschen, sie kann nicht
mehr gefunden, gespielt und veranschaulicht werden.
Sehdelmann drängt auf die Schärfe der Charakterisie
rung, und es wird das ironische Werk der spätromanti
schen Bildung. Das realistische, historisierende Spiel ist
das zeitliche Ergebnis.
Von Kassel aus verbreitet sich sein Ruhm. Mehrere
Gastspiele an anderen deutschen Theatern brachten gro
ßen Erfolg. Gute Kritiken begleiten ihn. Mancher be
fähigte Beobachter erkennt deutlich seine Begabung.
So schreibt ein Hamburger Berichterstatter im Jahre
1826 während des dortigen Gastspieles: „Sehdelmann ist
noch nicht dahingelangt, die edleren Gestaltungen zu
lieben. Die ganze Darstellung war mit der größten Be
stimmtheit nach genauem Maße angelegt und in der
Ausführung zeigt sich ein Mut, ich möchte fast sagen eine
Keckheit, die schon einen hohen Grad von innerer Über
zeugung und eine wahrhaft geniale Rüstung des Geistes
voraussetzt". Man empfindet sehr wohl die Schärfe sei
nes Spieles, kann sich aber seiner genialen Art nicht
völlig verschließen. Richt weniger treffend urteilt der
Kasseler Berichterstatter in Seydelmanns letztem Kasse
ler Jahre, der ein sehr kluger Kops gewesen sein muß.
Er schreibt über Sehdelmann in dem Schauspiel „Lud
wig XI. in Peronne" von I. von Auffenberg.
„Was bei uns aber die Aufführung dieses Stückes
besonders hervorhebt, das ist Seydelmanns vor
treffliche Darstellung Ludwigs des Elften- eine Dar
stellung, worin sein ausgezeichnetes Talent, historische
Charaktere zu ergreifen und in einzelnen, feinen und
durchdachten Zügen zu einem kräftigen und mit Leben
ansprechenden Bildnis auszuarbeiten, sich recht dartut.
Vom ersten Auftreten an bis zum letzten ist hier die stete
9) H. Th. Nötscher a. a. O.