Full text: Hessenland (49.1938)

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Wie das Theatergebäude eine großzügige Erneuerung 
erfuhr, so bemühte sich auch der Kurfürst um eine Auf 
frischung und höhere künstlerische Leistung der einzelnen 
Kräfte. Sein Bedürfnis, eine glänzende und reiche Bühne 
zu besitzen, erforderte, daß Feige, der Theaterintendant, 
eine große Kunstreise unternehmen mußte. Feiges Kennt 
nis der deutschen Theaterverhältnisse und seine Be 
ziehungen Zu den einzelnen Leitern der deutschen Bühnen 
gestatteten es, daß er ein künstlerisch großes und reich 
haltiges Theaterpersonal nach Kassel verpflichten konnte. 
Seine Sachkenntnis und menschliche Art befähigten ihn, 
die Erwartungen, die der Kurfürst an sein Theater stellte, 
zu erfüllen. Unter seiner Leitung entwickelte sich die Be 
deutung und angesehene Stellung der Kasseler Bühne. 
Auf dieser Kunstreise nun, die ihn an alle größeren 
Bühnen führte, traf er in Prag Karl Seydelmann. Mit 
Karl Sehdelmanns Tätigkeit am Kasseler Theater hatte 
die kurhessische Bühne eine erste Kraft der damaligen 
Theaterwelt gewonnen. Künstler wie er, wie Ludwig 
Löwe, Leo, Gaßmann, wie Ludwig Spohr, Gerstäcker, 
Hauser, Hennriette Schmidt und manche andere, verbrei 
teten den Nus der Kasseler Bühne weit in den Theater 
kreisen der anderen deutschen Landschaften. 
Seydelmann war als Sohn eines gut gestellten Kauf 
mannes 1793 in Glatz geboren. Wenngleich er auch 
schon frühzeitig Liebe und Neigung für Buhne und 
Theater bewies, so versuchte er es dennoch mit der mili 
tärischen Laufbahn, der er mit mancherlei Schwierigkei 
ten 1815 wieder entkam. Am Breslauer Stadtheater 
sammelte er seine ersten Erfahrungen. Hier erlebte er auch 
seine ersten Schwierigkeiten, die sogar so stark in Erschei 
nung traten, daß der Theaterdirektor dem jungen Seydel 
mann riet, die Bühne Zu verlassen. In diesen kritischen 
Stunden bewies er Zum ersten Male seinen zähen Wil 
len, so daß er trotz mehrfachen Abratens unerschütterlich 
seiner starken Neigung zum Theater treu blieb und mir 
aller Kraft sein Ziel weiterhin verfolgte. Sein Ausspruch, 
„Und ihr sollt sehen, ich werde doch noch ein Schauspie 
ler'', offenbart seine Energie. Er verließ seine Breslauer 
Stellung und ging 1819 nach Gratz in der Steiermark. 
„Die künstlerische Einsicht, die ihn vor den meisten seiner 
Kunstgenossen auszeichnete, seine früh entwickelte Ge 
schicklichkeit, die Menschen zu behandeln und für seine 
Zwecke zu nützen, verschaffte ihm schnell das Vertrauen 
der dirigierenden Kavaliere und damit das Amt der 
Schauspielregie. Sein leidenschaftlicher Ehrgeiz, der 
brennende Trieb, sich auszuzeichnen und andere zu über 
ragen, ließen ihn dies Vertrauen durch einen so unge 
stümen Eifer, einen so angestrengten Fleiß rechtfertigen, 
daß seine Gesundheit dadurch den ersten Stoß erhielt. 
Er übte sich hier vielfach in komischen Nöllen, in denen 
er den Mangel der natürlichen komischen Kraft durch 
charakteristische Naturnachahmung zu ersetzen strebte." 2 ) 
Nur dreiviertel Fahr dauerte seine Gratzer Zeit, da 
das Theater einging und sein Vertrag auf drei Jahre 
nutzlos geworden war. Seydelmann ließ Frau und Kind 
in Gratz und versuchte vergeblich, in Preßburg und Wien 
eine Anstellung zu erhalten. Schließlich landete er in 
Ollmütz an einer wenig erfreulichen Kunstanstalt, einem 
besseren Schmierentheater, das über einem Ochsenstall 
2) Eduard Devrient: Geschichte der deutschen Schauspielkunst, 
neu bearbeitet von Willy Stuhlfeld, Berlin 1929. 
den musischen Bedürfnissen huldigte und dort Theater 
kultur trieb. Die Not zwang ihn, hier einen Vertrag zu 
schließen. Jedoch die zunehmende Mißgunst seiner Kollegen, 
die Zeugnisse arger Gehässigkeit und geringer mensch 
licher Bildung, die hemmungslose und brutale Art der 
Behandlung, der er ausgesetzt war, zwangen ihn, Ollmütz 
aufzugeben. Zu deutlich hatte sich in Kurzem der Unter 
schied der Begabungen ergeben, und der schlecht ver 
hehlte Neid machte Seydelmann den Aufenthalt uner 
träglich. 
In dieser Not schrieb Seydelmann an Holbein nach 
Prag und bat um eine Anstellung. Noch wußte man 
nichts von Seydelmann, noch wußte er selbst nicht, welche 
Nöllen seiner Kraft lagen. Er konnte noch kein Gebiet 
angeben, er schrieb nur freimütig: „Ich glaube ich habe 
Talent, allein ich weiß nicht, wo es hinaus will. Ich 
glaube, Sie würden es bald sehen und ihm freundlich 
den Weg zeigen. Engagiren Sie mich, wofür und für 
was Sie immer wollen. Ich ergebe mich Ihnen unbe 
dingt. Wenn Sie mich nicht so stellen können, daß ich 
brauchbar bin, so ist's Nichts mit dem Theater und ich 
muß einen anderen Weg einschlagen. Ich habe Bildung, 
Fleiß und ein dankbares Herz. Wagen Sie es mit 
mir ." :i ) Holbein nahm sich Sehdelmanns an und ließ 
ihn nach Prag kommen. Diese Tat ist stets eine bemer 
kenswerte Geste in Holbein's Leben geblieben. Er durfte 
in seiner späteren Laufbahn, die ihn von Prag nach 
Hannover und schließlich zum Wiener Vurgtheater 
führte Z, stets auf eine große Dankbarkeit Sehdelmanns 
rechnen. Holbein erkannte und förderte das Talent 
Sehdelmanns, der bald die größeren Nöllen erhielt und 
seine künstlerische Deutungskraft in den Charakterdarstel 
lungen stets nachhaltiger erprobte und bewies. Größere 
Aufgaben wurden an ihn gestellt, und er vermochte bald 
Theater und Publikum zu überzeugen, daß eine außer 
gewöhnliche Begabung sich zu entfalten trachtete. Holbein 
ermunterte und betreute ihn. Seydelmann erwarb sich 
in Prag einen Nus, der allmählich auch außerhalb ver 
nommen wurde. 
Noch aber ist die Prager Zeit die eigentliche Lehr 
epoche. Zum ersten Mal kann er im gemäßen Nahmen 
seine Kräfte entfalten. Die Mimik und Physignomie 
erzwingt er sich, und mit hohem Ernst aber auch 
nicht weniger starkem Ehrgeiz erreicht er die Schärfe 
und psychologische Schlagkraft seiner Nöllen. Damit 
wendet er sich gegen die bisherige Form einer klaren 
und ruhigen Pathetik, die aus dem Gleichmaß aller 
Kräfte die einzelnen Unterschiede zeichnet und stets 
das harmonische Verhältnis des Menschlichen als Grund 
lage wahrt. Sehdelmanns Prager Zeit bestimmt die 
Wendung gegen die bisherigen Spielgesetze, die er und 
Ludwig Devrient in der deutschen Schauspielkunst durch 
brechen. Die Anstrengungen, die Seydelmann seinem 
Körper Zumutete, die Auspeitschung der Nerven, um die 
Grausamkeit und einseitige, lasterhafte Zuspitzung der ein 
zelnen Charaktere zu erzielen, die angestrengte Leiden 
schaftlichkeit des ganzen Spieles griffen seine Gesund 
heit stark an. Krämpfe im Unterleib traten ein, ohn- 3 4 * 
3) H. Tb. Nötscher: Sehdelmanns Leben und Wirken, Berlin 
1843. 
4) Hans Calm: Kulturbilder aus der deutschen Theater 
geschichte, Leipzig 1925.
	        
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