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Hessisch-Lichtenau, Gasthof zum grünen Baum
um 1650 erbaut, 1884 photographiert, 1886 abgebrannt
denden Kunst traten hinzu. So fühlte er sich gewiß nicht
wohl bei trockener Arbeit in dumpfen Amtsstuben. Als
29jähriger quittiert er darum auch seinen Dienst und der
junge Referendar a. D. zimmert sich nun ein Leben ei
genster Konstruktion, er wird Privatgelehrter. Er ist sich
wohl bewußt, daß er damit ein Leben der Entbehrungen
beginnt, doch — so denkt er — zu meinen bescheidenen
Lebensansprüchen wird das kleine elterliche Vermögen
(die Mutter starb kurz, nachdem er — so pflegte er Zu
sagen — seinen Referendar begraben hatte) schon hin
reichen.
Der Verlust der Eltern, dazu eigene körperliche Be
schwerden (von Jugend an litt er unter asthmatischen
Leiden) hatten ihn schwer bedrückt. „Als kräftiges Mit
tel, seinen gesunkenen Lebensmut aufzufrischen", zieht
er vor nunmehr genau 70 Jahren mit seinem Vetter,
dem späteren Professor der orientalischen Sprachen zu
Wien, zu einer weiten Studienreise aus: über West
falen und Rheinland durch Belgien und Frankreich nach
England. Sein Interesse gilt vor allem den Orgeln.
Die Forschungen in den Kathedralen in Belgien, Frank
reich, England, dazu die Feststellungen in Bibliotheken
und Sammlungen zu London und Oxford, bereichern
das Wissen ungemein, das er sich in Marburg und an
den Orgeln in den Kirchen ringsum im hessischen Land
angeeignet hatte. Ja, das Material, das er von seiner
großen Fahrt mitbringt, erdrückt ihn schier. Soll er nun
aus seinen unzähligen Aufzeichnungen, aus der Fülle
der einschlägigen Literatur, die er auf den Bücher
regalen seines Arbeitszimmers angehäuft hat, das
ihm als Ziel vorschwebende große Werk über die Ge
schichte der Orgel zusammenschreiben? Staatliche finan
zielle Unterstützung hierfür bleibt ihm versagt, er würde
drum kaum einen Verleger für das Monumentalwerk
finden können — so ist das Schicksal dieser Arbeit be
siegelt, ehe das Manuskript zu schreiben begonnen wurde.
Das ist, nach der verkrachten Existenz des Negierungs
referendars, der zweite große Fehlschlag im Leben Lud
wig Vickells.
, Doch inzwischen haben sich aus seinem Geist zwei
Kerne herauskristallisiert, um die sein ganzes ferneres
Leben kreisen sollte: Sammlung alten Kunst-
u n d Kulturgutes und archivalische Festlegung der
Bau- u. Kunstdenkmüler mittels der Photographie.
Auf diesen beiden Gebieten hat er nun wahrhaft meister
liche Leistungen vollbracht, zumal er sich dabei von jeg
licher Verzettelung seiner Kräfte fernzuhalten wußte, sich
vielmehr ganz bewußt aus die hessische Heimat be
schränkte.
Rur als Einsiedler konnte er die Gebiete beackern, die
zu seinen Zeiten ja mehr und mehr Ödland wurden- die
Schätze der Vergangenheit versanken damals unter einer-
neuen „Kultur"schicht, deren nachgelassene leider nur
allzu deutliche Spuren uns heute als Zeichen geistigen
Verfalls erscheinen. Bickclls großes Verdienst ist cs, daß
er jener Zeitströmung zum Trotz das gediegene Alte
rettete und bewahrte, soweit er seiner nur irgendwie
habhaft werden konnte. Man spottete seiner, wenn er alte
verrostete Ofenplatten vom Lande mit heimbrachte und
im Schweiße seines Angesichts zu seiner stillen Klause
am Marburger Kalbstor den Schloßberg hinaufschleppte.
Man lachte über ihn heimlich, wenn er einem eine durch
Verwahrlosung unscheinbar gewordene Truhe oder längst
abgestelltes Hausgerät abgekauft hatte. Man schüttelte
den Kopf, wenn er von Abbruchresten alter Fachwerk
häuser, die nur noch als Brennholz eine Verwendung
finden sollten, Stücke an sich nahm. Und die Kinder
kicherten hinter ihm her, wenn „der Alte" — schon in
jüngeren Fahren wirkte er mit seinem struppigen Bart
und seinen auf die Schulter herabwallenden langen
Haupthaare vergreist — daher kam. Rur wenige konnten
damals Verständnis aufbringen für ihn und seine Arbeit.
Die Zeiten sind anders geworden. Wir erinnern uns,
wie vor etwa drei Jahrzehnten bis in breite Schichten
des Volkes wieder neuer Sinn erwachte. Die schönen
alten Möbel aus der Zeit, da der Großvater die Groß
mutter nahm, kamen wieder zu Ehren- Zinngeschirr und
irdene Ware ward wieder vom Boden geholt und ge
achtet- und auf das Land hinaus ergoß sich der Strom
der „Interessenten", die aufkauften und verschleppten,
was sie dort an neu erkanntem Kulturgut fanden. Lud
wig Bickell hat ihnen 30, 40 Jahre voraus gearbeitet,
und er tat es nicht aus Eigennutz, sondern ganz selbstlos,
nur aus Liebe zur Sache!
1875 wurde Bickell vom Hessischen Geschichtsverein
zum Konservator der von ihm gegründeten Hessischen
Altertümersammlung gewählt. Als drei Jahre später die
Geschichtsvereine des Reiches in Marburg ihre Jahres
versammlung abhielten, konnte er seine Schätze in einer
Ausstellung im Schloß gebührend zur Geltung bringen.
1880 wurden ihm diese Räume dann überhaupt für seine