Heimatzeitschrift für Rurhessen
Herausgegeben in Verbindung mit dem Arbeitsring für hessische Heimatforschung an der Universität
Marburg, dem Verein für hessische Geschichte und Landeskunde und dem Museumsverein der Stadt Kassel
von Dr. C. Hitzeroth, Marburg-Lahn
49. Jahrgang Marburg-Lahn, Mai/Iuni 1938 Heft 5/6
Zur historischen Entwicklung des bäuerlichen Grundbesitzes in Hessen
Das Kataster des 18. Jahrhunderts als Geschichtsquelle')
Von Günther Wrede
Das Staatsarchiv Marburg birgt in seinem mehrere
tausend Bande umfassenden Bestände hessischer Kataster
aus dem 18. Jahrhundert mit den zugehörigen Flurkar-
tcn eine Quellensammlung, die für die Geschichte des
hessischen Bauerntumes und für alle aus der Ausrichtung
auf „Blut und Boden" erwachsenden Aufgaben der
landesgeschichtlichen Forschung den Ausgangspunkt und
die breiteste Grundlage bildet. Ob es sich um den Nach
weis des Zweihundertjährigen Besitzes eines Bauernhofes
in ununterbrochener Blutfolge, um die Verteilung des
Besitzes und den Zusammenhang der Sippen eines ein
zelnen Dorfes, um die Feststellung der zu einem Hofe
gehörigen Grundstücke oder um die Aufstellung einer
Ortschronik handelt, wie sie jüngsthin für jedes Dorf ge
fordert wird, immer wird dies Kataster die erste Hilfe
und einen sicheren Ausgangspunkt bieten. Sein Wert
ist um so höher anzuschlagen, als es sich hier um ein
gleichmäßiges Material über Orts- und alte Amtsgren
zen hinaus für ein ganzes Territorium handelt, sodaß auch
für vergleichende Forschung und für die Beobachtung all
gemeiner Gesichtspunkte genügend Spielraum vorhanden
ist. Das Verständnis für die hervorragende Bedeutung
dieser Ouellengruppe zur Geschichte des hessischen
Bauerntums in weiteren Kreisen zu vertiefen, ist das
Ziel der folgenden Darlegungen.
Wir beginnen mit einem kurzen Überblick über die
Entstehung des Katasters. Von alters her ist es das
Bestreben des Grundherrn, seine Besitztitel am Grund
und Boden schriftlich niederzulegen, um jederzeit seine
Rechte mit Nachdruck vertreten zu können. Hierhin ge
hören die Traditionsverzeichnisse, Urbare und Heberegi
ster der Klöster seit karolingischer Zeit, ferner in ent
wickelterer Form die Salbücher des 14. Jahrhunderts.
1) Nach einem Vortrag im Verein für hessische Geschichte und
Landeskunde in Marburg vom 25. Februar 1937.
Haben die geistlichen Institute bis zum ausgehenden
Mittelalter die Führung, so hat der äußere und innere
Ausbau des Territorialstaates auch einen Aufschwung
der landesfürstlichen Negisteraufstellung zur Folge, die
für Fortschritt und ständige Verfeinerung in der Auf
zeichnung nutzbarer Nechtstitel und fließender Geldquellen
sorgt.
Aus der Landgrafschaft Hessen nennen wir in diesem
Zusammenhang die ältesten Salbücher des Amtes Mar
burg aus dem 14. Jahrhundert 2 ). Die Zentralisierung
der Finanzverwaltung im 15. Jahrhundert und die Er
hebungen über die Nutzungswerte der hessischen Gebiete
anläßlich der Teilung des Territoriums im gleichen
Jahrhundert führen die Entwicklung bereits zu einer be
deutenden Höhe und Vielseitigkeit in der Erfassung von
Finanzquellen, wirtschatflichen, rechtlichen und sozialen
Verhältnissen des Landes. Der entscheidende Fortschritt
des 16. Jahrhunderts ist der Übergang zur Vermessung
des Grundbesitzes in der Negierungszeit Philipps des
Großmütigen. Das Ergebnis seiner Sorge für das Fi
nanzwesen liegt uns in den zahlreichen Salbüchern der
einzelnen Ämter aus der zweiten Hälfte des 16. Jahr
hunderts vor, einem neuen und festen Typus, der als
Vorläufer des späteren Katasters angesprochen werden
darf. Hoheits- und Gerichtsverhältnisse von Ämtern und
Ortschaften, Hausstätten- und Einwohnerzahlen, Abga
ben und Dienste der Untertanen, vor allem die Einkünfte
aus dem landesherrlichen Grundbesitz sind bereits ver
zeichnet. Hier begegnet zum ersten Male ein einheitliches
Material für das ganze Territorium. Die nächste Etappe
2) Küch, Das älteste Salbuck des Amtes Marburg. Zeitschr.
f. hessische Geschickte Bd. 39 (1905) S. 145 ff.- vgl. zum Folgenden
Zimmermann, Der Oekonomische Staat Landgraf Wilhelms IV.
Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen und
Waldeck XVII. Bd. I (1934) S. 113 ff., Bd. II (1933).