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Rommel vermutete, daß sich die Zeichen auf
Wahrsagung durch bezeichnete Baumstäbchen be
ziehen müßten, und daß es massive Hieroglyphen
seien, deren Bedeutung ein Geheimnis der Prie
ster wäre.
Durch die Familie von Schwertzell, mit wel
cher Wilhelm Grimm sehr befreundet war 2 ),
war dieser aus den merkwürdigen Fund aufmerk
sam gemacht worden. Er weilte im September
1818 in Willingshausen zu Besuch und hatte
sich über den Fund an Vrt und Stelle berichten
lassen, auch die Zusage erhalten, daß man ihm
die Steine bei Gelegenheit nach Kassel schicken
würde. Professor Rommel, der sich ebenfalls für
die Frage brennend interessierte, war zu diesem
Zweck am Christabend 1618 nach Willingshau
sen gekommen, um sich die Steine zeigen zu las
sen. Er hatte indessen wenig Glück, da die Fa
milie Schwertzell sie ihm vorenthielt unter dem
Vorwand, Herr von Radowitz, der Freund
der Schwertzell'schen Familie 3 ), habe sie mitge
nommen. Wir besitzen darüber bisher unbekannte
Briefe von Wi lhelmine von Schwert-
z e l l an Wilhelm Grimm, welche sich im
Grimmschrank der Preußischen Staatsbibliothek
befinden und zur Aufhellung dieser Frage sehr
wertvoll sind. Wilhelmine von Schwertzell, die
Wilhelm Grimm freundschaftlich nahe stand,
war die zweitälteste Tochter des Hesten-Kasselschen
Rittmeisters a. D. Georg Ludwig TNlhelm
von Schwertzell (geb. 1756, st 1833) in TNl-
lingshausen.
Sie war am 2. August 1790 geboren und
starb unverheiratet am 20. November 1849 in
Willingshausen. Der Berliner Grimmschrank
besitzt 73 Briefe und 4 Billets von ihr an Wil
helm Grimm aus den Fahren 1816—1841. Der
Briefwechsel beginnt am 26. Fuli 1818 und en
digt am 13. Ntärz 1641, also erst wenige Fahre
vor ihrem Tode.
Fn dem vierten Brief vom zweiten Weih-
nachtötag 1818 schildert sie Wilhelm Grimm
die feierliche, erwartungsvolle Weihnachtsstim
mung der Familie unmittelbar vor der Stunde
der Bescherung und fährt dann fort: „Nun der
Abend endlich kam, die Freude und Erwartung
immer höher stieg — d a trat auf einmal
der Professor Rommel mitten in
2) Dgl. meinen Aufsatz: „Beziehungen der Brüder
Grimm zur Familie von Schwertzell" („Hessenland"
1927, S. 226 ff und Ztschr. f. Hess. Gesch. Bd. 37,
S. 225 ff.).
3) Josef Maria von Radowitz, Hauptmann und Leh
rer am Kadetten-Korpg, der stch die Ungnade des Kur
fürsten zuzog und nach Treysa versetzt wurde.
das Vergnügen und die Eßstube
hinein. Aber was tat'ö? Die Bewegung blieb
dieselbe, auch bemerkte ich nicht, daß ein freudiges
Gesicht sich verlängert hätte .... Der Profes
sor kriegte nichts als ein abgerissenes Bisquit-
chen .... Ich hab Fhnen was trauriges zu ent
decken, daß wir bei dieser Geschichte etwas von der
Wahrheit abgewichen find, und das ist allemal
schlimmer.
Der Professor Rommel erhielt im Frühjahr,
wie Sie wissen, eine durch Alex (Bruder von Wil-
helmine von Schwertzell) genommene freie Nach
bildung der Zeichen, begehrte nun vor kurzem
eine ähnliche Zeichnung von den übrigen Steinen,
bekam indeß sogleich die Weisung zurück, diese
wäre wegen Undeutlichkeit durchaus nicht zu ge
ben, auch könne man für die völlige Treue der
erhaltenen Zeichnung nicht stehn, weil sie nicht
mit der Genauigkeit abgenommen wäre, die eine
solche Fnschrist verlange, die aber in einer durch
Radowitz genommenen Abschrift völlig beobachtet
sei, weshalb man ihn, wolle er der Wahrheit
näher auf die Spur kommen, an diesen verwei
sen müsse. Fhr Name war gar nicht in dem
Brief vom Vater genannt. Nun kommt der
Professor und eine seiner ersten Fragen ist die
nach den Steinen, worauf der Vater, um sie ihm
ganz aus den Augen zu rücken, angab, Radowitz
habe sie mit sich genommen (was ein schwerer,
schwerer Kasten muß das gewesen sein!) und die
Sache nun beendigt glaubte. Doch wird sich
Rommel nun bestimmt an Radowitz wenden,
weil ihm, wegen dem Landgrafen Karl, viel an
der Sache gelegen scheint, und dieser wird nun
genötigt sein, wieder etwas zu erfinden, um nicht
gerade heraus zu sagen, sie reden in Willings
hausen nicht allzeit wahr.
Wenn nun ein Sendschreiben erscheint, so
wissen Sie und Radowitz, wie alles zusammen
hängt. Nicht wahr, es wäre doch wohl bester
gewesen, wir hätten gesagt, die Fnscriptionen sind
schon an jemand anders versprochen, und er könne
stch beruhigen, es werde, wenn überhaupt Licht
darüber zu verbreiten sei, schon Licht darüber
kommen, und helleres, als er anzuzünden ver
möge".
Wilhelm Grimm hatte inzwischen die Steine
erhalten und war damit beschäftigt, eine Abhand
lung darüber zu schreiben, welche er in seiner
Schrift „Über deutsche Runen" (Göt
tingen 1821) S. 266 ff. veröffentlicht hat. Fn
seiner Selbstbiografie berichtet er über die Ent
stehung derselben: „Zu der Schrift über deutsche
Runen veranlaßte mich ein Fund in einem al-